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Interview: „Haiti ist eine offene Wunde des Westens“

UN-Experte Enrique ter Horst über Stolz und Probleme der Hilfe.

Die UN hatten zum Unglückszeitpunkt 9000 Soldaten und Zivilisten im Rahmen der Minustah-Mission auf Haiti, doch Berichten aus Port-au-Prince zufolge sind sie kaum präsent. War die Minustah nicht auf Katastrophen vorbereitet?



Die Infrastruktur der UN wurde durch das Beben schwer beschädigt, daher scheint die Minustah mit der Lage überfordert. Das hat US-Präsident Barack Obama schnell verstanden und seine Soldaten mobilisiert. Die US-Kräfte sind essenziell, um jetzt für Ordnung zu sorgen.

Es scheint Rivalitäten zwischen Brasilien, das die Minustah anführt, und den USA zu geben hinsichtlich der Frage, wer die Führungsrolle übernimmt.

Die Amerikaner sind näher dran und kennen Haiti viel länger. Letztlich wird derjenige, der mehr Geld, Soldaten und Helfer zur Verfügung stellt, die Kontrolle übernehmen. Und das scheinen die Amerikaner zu sein. Allerdings haben auch sie die Lage noch nicht unter Kontrolle.

Sehen Sie die Gefahr von Meutereien und Plünderungen?


Ja, die Gefahr existiert. Es kam schon zu ersten Plünderungen, und der Unmut wächst. Die Situation ist sehr heikel.

Welches sind die Herausforderungen?


Die große Armut, die defizitäre öffentliche Infrastruktur und der sehr schwache Staat. Port-au-Prince ist ein völlig unregierbarer Moloch, der ohne jegliche Planung in kurzer Zeit auf zwei Millionen Menschen anwuchs. Die Bauten sind sehr prekär, was das Ausmaß der jetzigen Katastrophe erklärt. Und natürlich die zerstörte Umwelt. Wenn man in der Regenzeit über Haiti fliegt, sieht man, wie die ganze fruchtbare Erde von den Flüssen ins Meer geschwemmt wird. Es sieht aus, als wenn das Land verblutet. Das hat damit zu tun, dass die Wälder fast vollständig abgeholzt wurden, weil Holzkohle bis heute der wichtigste Brennstoff ist.

Seit 1993 gibt es UN-Missionen in Haiti. Warum hat all die ausländische Hilfe offenbar nicht gefruchtet?


Das liegt an beiden Seiten. Einerseits sind die Haitianer stolz und nationalistisch, sie wollen alles allein machen und bremsen deshalb die internationalen Projekte aus. Sie reagieren sehr empfindlich, wenn etwas nach Interventionismus aussieht. Die internationale Gemeinschaft kennt dieses Problem, hat aber nicht entsprechend reagiert.

Haben nicht auch internationale Rivalitäten und bürokratische Ineffizienz oft eine effektivere Hilfe verhindert?


Ich habe den Eindruck, dass sie im Lichte dieser Tragödie in den Hintergrund treten. So hat Kuba den Hilfsflugzeugen der USA die Überflugerlaubnis erteilt. Hoffentlich wächst durch das Erdbeben das Bewusstsein, dass Haiti eine offene Wunde der westlichen Hemisphäre ist. Diese Katastrophe birgt die große Chance, die Entwicklungsblockaden zu überwinden.

Die Fragen stellte Sandra Weiss.

Zur Person
Enrique ter Horst hat die UN-Mission in Haiti in den Jahren 1996 und 1997 geführt. Der Venezolaner kennt den Karibikstaat seit vielen Jahren.

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