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Irrtümer 2011: "Wir wissen, wie sicher unsere Kernkraftwerke sind"

Mit diesem Satz irrte Bundeskanzlerin Merkel. Auch die Japaner glaubten an die Sicherheit ihrer Atomkraftwerke. Dann kam Fukushima. Seitdem sind die Menschen gewarnt. Oder? Eine Reportage.

Was soll er dazu sagen? Der Mann, lang und dürr, atmet ein. Er neigt den Kopf zur Seite. Er überlegt und sagt dann: „Einfach weitermachen.“ Das sei die einzige Lösung, die ihm einfalle. Kein Platz für große Wünsche in seinem kleinen Laden. Weitermachen.

Koki Ui ist Besitzer eines Geschäfts, das es in anderen Ländern vermutlich nicht mehr gäbe. In Deutschland jedenfalls wäre das wohl so. In Japan hingegen hat Koki Ui, wenn er es recht überlegt, keine Kunden verloren in den vergangenen Monaten. Er verkauft Produkte aus Fukushima – und zwar ausschließlich.

Es ist die Region in Japans Norden, in der nach dem schweren Erdbeben am 11. März Reaktoren des Kernkraftwerkes Daiichi explodierten, Brennstäbe schmolzen, Radioaktivität entwich; deren Name Synonym geworden ist für „Katastrophe“. Die Ruine des Kraftwerks sachgemäß abzureißen, sagt die japanische Regierung, könne 40 Jahre dauern.

„In den ersten zwei Monaten nach der Katastrophe habe ich zehnmal mehr verkauft als zuvor“, erzählt Ui, lächelt und erklärt dann schnell: „Die Menschen kauften aus Solidarität.“

Das Geschäft von Koki Ui liegt in der Nähe des Bahnhofs in Tokio und ist recht übersichtlich. Es ist ein Laden unter vielen kleinen, die Spezialitäten aus den einzelnen Präfekturen des Landes verkaufen, aus Yamagata, aus Hokkaido, Iwate oder eben aus Fukushima; ein Raum, den der Einkäufer mit vielleicht 15 Schritten in der Länge durchmessen hat und vier in der Breite, mit Regalen vor allem an den Seitenwänden. Ui verkauft alles, vom Gemüse bis zur Süßigkeit. Auf einem Teller liegen ein paar Kekse zum Probieren.

Als das Leben in Tokio nach dem Erdbeben sich wieder zurechtgerüttelt hatte, da sorgte auch Ui sich wegen der Nachrichten, die aus Fukushima in die Hauptstadt drangen. Verseuchung des Bodens, Evakuierung der Menschen, Verstrahlung von Lebensmitteln. Doch waren die Überlegungen des Herrn Ui eher genereller Natur, hauptsächlich Sorge um die Menschen vor Ort, weniger um sein Gemüse.

Aber kümmerte denn niemanden die Gefahr? „Am Anfang“, sagt Ui, „kamen gar keine Fragen nach der Strahlung.“ Nun hat die Regierung – erhöhte – Grenzwerte für Lebensmittel festgelegt. Es gibt Kontrollen. Und wer Sorgen hat, kauft einfach woanders. Inzwischen sei der Kundenverkehr wieder ganz normal, sagt Ui, so wie vor dem 11. März.

Während die Deutschen Angst hatten vor verstrahltem Sushi im eigenen Land, kaufen die Menschen in Japan die Produkte ihrer Landsleute, um deren wirtschaftlichen Ruin abzuwenden – was vermutlich kaum möglich sein wird. Der Wunsch, einander zu helfen, ist größer als die Angst vor möglicherweise lebensgefährlichen Krankheiten, die Pilze und Reis aus der Gegend um das havarierte Kraftwerk mit sich bringen könnten.

Anfang Dezember berichten die Medien in Japan, dass in Milchpulver für Babys radioaktives Cäsium gefunden worden sei, wenn auch weniger als gesetzlich gestattet. Die japanische Nachrichtenagentur Kyodo meldet, das herstellende Unternehmen vermute, dieser Fund könne auf die Vorfälle in Fukushima zurückzuführen sein. Kurz zuvor stellt sich bei Stichproben heraus: Auch der Reis aus der weiteren Gegend um das havarierte Kraftwerk ist verstrahlt.

Man muss eben aufpassen, was man kauft, sagen Tokios Bewohner. Aufpassen heißt vor allem: Informationen selber suchen.

Im Grunde, meint der Politiker Mitsuru Sakurai, habe sich die Informationspolitik im Land seit dem Zweiten Weltkrieg nicht verändert. Auch damals habe die Armee positive Nachrichten veröffentlicht, die schlechten aber verheimlicht, um den Bürgern unnötige Sorgen zu ersparen. Selbst die Diagnose einer schlimmen oder sogar tödlichen Krankheit hätten Ärzte früher nicht mitgeteilt.

Sakurai ist in der Regierungspartei DPJ Leiter des Teams für den Wiederaufbau der Gebiete, die von Erdbeben und Tsunami zerstört wurden, vor allem aber ist er auch Arzt, er praktizierte in den schwer beschädigten Präfekturen Iwate und Miyagi. Hat er denn seinen Patienten immer alles gesagt? „In den meisten Fällen“, sagt er, „je nachdem, wie sie es aufnehmen konnten.“

In Japan gebe es bei vielen Kindern bereits den Verdacht, dass ihre Schilddrüse durch die Strahlung aus Fukushima geschädigt wurde. Die viel größere Gefahr, sagt Sakurai, sei aber die langfristige niedrige Strahlung, der die Menschen ausgesetzt seien. Wer kann schon jetzt abschätzen, zu welch gesundheitlichen Schäden die führen wird?

Kulturkritiker: Europäer sind ein Volk des Tuns, Japaner ein Volk des Werdens

Nun messen sie in den Regionen um Fukushima die radioaktive Verstrahlung bei Kühen – um einzuschätzen, wie viel die Menschen dort seit dem Unglück im März abbekommen haben könnten. „Es ist erst das zweite Mal in der Geschichte, dass die Menschheit mit so etwas umgehen muss“, sagt Sakurai, und es klingt fast ein bisschen trotzig. Das erste Mal war Tschernobyl. Woher soll man denn jetzt genau wissen, was richtig ist und was nicht?

Niemand weiß das. Und nicht jeder hat Zeit, sich selbst zu informieren – oder das Bewusstsein dafür.

Könnte man die Strahlung sehen, sie riechen oder schmecken, das wäre praktisch. Aber man kann es nicht, die Gefahr bleibt unsichtbar.

Auf dem großen Tokioter Elektronikmarkt im Stadtteil Akihabara verkaufen sich Geigerzähler derzeit so gut wie nie. Trotzdem sind zeitgleich Pilze aus Fukushima sehr beliebt. Denn sie sind billiger als andere und werden ja doch in Gewächshäusern gezogen und was kann da schon ...

Anfang November trinkt der Staatssekretär Yasuhiro Sonoda vor Kameras ein Glas Wasser. Es sieht klar und sauber aus. Angeblich stammt es aus einer Pfütze am Atomkraftwerk Fukushima. Er habe beweisen wollen, sagte Sonoda, dass die Region sicher sei. Es heißt, als er trank, sei er nervös gewesen.

Yukio Edano, damals Regierungssprecher, biss im April beherzt in Tomaten und Erdbeeren aus der verstrahlten Region. Heute ist Edano Wirtschaftsminister, Chef des Ministeriums also, dessen Verquickungen mit der freien Wirtschaft zu jahrzehntelangem, ungehemmtem Ausbau der Atomenergie im ganzen Land führte. „Herr Edano“, sagt der Politikerarzt Mitsuru Sakurai, „wird streng dafür sorgen, dass die Bevölkerung und auch die Politiker ausreichend informiert werden.“

Weil es so schnell keine verfügbaren Alternativen gibt, will die Regierung in Japan erst mal an der Atomenergie festhalten, selbst wenn deren Anteil künftig reduziert werden soll. Immerhin: Dass Energie nicht endlos vorhanden ist, diese Einsicht ist nach Fukushima auch in der Stadt der Glitzerleuchtreklame Tokio angekommen. Schilder im Umweltministerium zum Beispiel ermuntern die Mitarbeiter, auf den Fahrstuhl zu verzichten, wenn nicht mehr als drei Stockwerke hoch- oder runterzugehen sind. Einige der Jüngeren, wird erzählt, laufen sogar bis in den 27. Stock.

Es gibt in Japan Kulturkritiker, die sagen: Europäer sind ein Volk des Tuns, Japaner ein Volk des Werdens. Die Europäer hätten stets etwas dafür getan, dass dieses oder jenes passiert. Die Japaner hingegen hätten immer im Nachhinein einfach akzeptiert, was geschehen ist. Was aber sollen sie denn tun?

Die eine war in diesem Jahr zum ersten Mal bei einer Demonstration. Der andere sagt, er sei nie politisch gewesen. Jetzt schon.

Koki Ui, der hart Arbeitende, besitzt seinen kleinen Laden seit fast drei Jahren, und dass der GAU das Ende seines Unternehmertums hätte bedeuten können, daran hat er nie einen Gedanken verschwendet in diesem verrückten und anstrengenden Jahr 2011.

Ui lächelt zum Abschied. Vor dem Geschäft verkauft ein Mann Feuerwerkskörper aus der Region, es sind riesige Böller. Fukushima ist berühmt für sein Feuerwerk.

Noch mehr Irrtümer 2011 lesen Sie im Jahresrückblick im heutigen gedruckten Tagesspiegel oder in der Tagesspiegel-App.

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