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Japan: Katastrophe im Land der Disziplin

Vor Supermärkten und Tankstellen geordnete Menschenschlangen. Kaum Zeichen von Panik. Die Japaner zeigen im Angesicht der Katastrophe eine unfassbare Gelassenheit. Dabei werden die Fernsehbilder und die Nachrichten von Tag zu Tag dramatischer.

Eigentlich sage er so etwas fast nie, aber jetzt müsse er es doch sagen: „In diesen Tagen verehre ich die Japaner. Sie reagieren so beherrscht, so erstaunlich gelassen. Das hat mich selbst überrascht.“

Der 88-jährige Germanistikprofessor Hikaru Tsuji, der einst Kafka und Goethe ins Japanische übersetzte, hat das Erdbeben in seinem Haus in Shimokitazawa, einem Szeneviertel im Westen von Tokio, erlebt. Als die Erde zu beben begann, floh er mit seiner Frau in den Garten. „Ich lebe noch“, sagt er lakonisch, „ich hatte Glück.“

Was der Professor beobachtet hat, ist im ganzen Land zu sehen. Mit ungeheuerer Disziplin, einer geradezu stoischen Ergebenheit fügen sich seine Landsleute in ihr Schicksal. Vor Supermärkten und Tankstellen stehen geordnete Menschenschlangen. Kaum irgendwo gibt es Anzeichen von Panik.

Dabei werden die Bilder, die das Fernsehen in die japanischen Haushalte bringt, immer schlimmer. „Es ist ein höllischer Anblick. Ich kann das einfach nicht glauben. Ich befürchte, es gibt noch viel mehr Opfer unter den Trümmern“, sagt Satoshi Abe, eine 55-jährige Büroangestellte aus der Stadt Kesennuma in der Präfektur Miyagi, Reportern der japanischen Zeitung „The Daily Yomiuri“ nach dem Erdbeben. Einige Bewohner, die es nicht geschafft hatten, Kesennuma rechtzeitig zu verlassen oder in Schutzbunkern unterzukommen, retteten sich in den dritten Stock eines Gemeindezentrums. Eingeschlossen von den Wassermassen mussten die Menschen dort die Nacht verbringen. Große Teile der Küstenstadt mit etwa 75 000 Einwohnern wurden nach dem Erdbeben und dem darauffolgenden Tsunami völlig zerstört. Wie viele Menschen sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten, ist weiter unklar. Auch die rund 40 Kilometer entfernte Küstenstadt Minamisanriku wurde völlig verwüstet. Allein dort werden tausende Menschen vermisst.

Zwar heißt es in den offiziellen Angaben am Sonntag immer noch, etwa 2000 Menschen seien ums Leben gekommen. Die Wahrheit dürfte jedoch um einiges dramatischer sein. Der japanische Fernsehsender NHK berichtete, dass es allein in der Region Miyagi möglicherweise mehr als 10 000 Tote gegeben hat. „Ich habe keinen Zweifel, dass die Zahl der Toten in Miyagi bis auf über 10 000 steigt“, zitierte NHK Naoto Takeuchi den Chef der Provinzpolizei.

In ganz Japan mussten hunderttausende Menschen in Notunterkünften untergebracht werden. Viele Familien wurden auf der Flucht vor der Flutwelle getrennt. Doch die Suche nach den Angehörigen ist äußerst schwierig, weil die Telekommunikation in einigen Teilen des Landes gestört ist. „Ich konnte mich gerade noch vor den Fluten retten, aber ich erreiche meine Familie immer noch nicht über das Handy“, berichtete Kazuo Chiba, ein Einwohner der zerstörten Stadt Kesennuma am Samstag. Unterdessen wird die Versorgungslage für die Überlebenden zwei Tage nach dem Erdbeben immer schwieriger, auch wenn die Rettungskräfte auf Hochtouren arbeiten. Millionen Menschen fehlt es an Trinkwasser, Elektrizität und Lebensmitteln. Nach Schätzungen der Behörden sind bei Temperaturen um den Gefrierpunkt mindestens 1,4 Millionen Haushalte ohne Wasser und 2,5 Millionen Haushalte ohne Strom.

Etwa 390 000 Menschen sind nach Medienberichten vor den verheerenden Zerstörungen der Naturkatastrophe geflohen – meist in Richtung Süden. Ein schwieriges Unterfangen, da große Teile der Infrastruktur zerstört sind. Straßen wurden unterspült, Brücken sind eingestürzt. In fünf Provinzen des Landes wurden mehr als 1400 Notlager in öffentlichen Gebäuden wie Schulen und Gemeindehäusern eingerichtet. Die Regierung hat angekündigt, die Zahl der Soldaten zur Unterstützung der Rettungseinsätze auf 100 000 zu verdoppeln. Doch auch die Suche nach Überlebenden gestaltet sich aufgrund der zerstörten Verkehrswege schwierig.

Auch das Technische Hilfswerk (THW) aus Deutschland ist mittlerweile im Einsatz. Am Samstag um 13 Uhr 30 sind 38 Helfer mit zwölf Tonnen Material und drei Spürhunden nach Japan aufgebrochen, zuvor war bereits eine Vorhut von sechs Mann in Tokio angekommen. Ihr Auftrag: Überlebende retten. Zunächst hielten sie sich in Tokio auf und warteten ab, in welcher Region sie zum Einsatz kommen sollten, erklärt THW-Sprecher Nicolas Hefner. Dabei drängt die Zeit. 72 bis 120 Stunden können nach allen Erfahrungen Menschen in Trümmern überleben. „In diesem Zeitfenster liegen wir noch.“

Am Sonntag brachen THW-Kräfte dann in den Westen des Landes auf. Ausgeschlossen werde allerdings ein Einsatz im radioaktiv verseuchten Nordosten. „Wir wollen auf gar keinen Fall“, sagt Hefner, „dass Helfer in kontaminiertes Gebiet gehen.“

Mittlerweile steigt in der japanischen Bevölkerung die Angst vor einer nuklearen Katastrophe, auch wenn diese Gefahr für viele Japaner noch wenig konkret ist. In Tokio, das etwa 240 Kilometer vom havarierten Atomkraftwerk Fukushima entfernt ist, herrscht angespannte Ruhe. Die Straßen der Metropole sind wie leergefegt. Augenzeugen berichten, dass sie eine derartige Stille in Japans Hauptstadt noch nie erlebt hätten. Nur wenige Bewohner haben sich aus Angst vor einer nuklearen Katastrophe zu Verwandten weiter in den Süden geflüchtet. Die meisten Menschen bleiben in Tokio im Kreis ihrer Familie und versuchen, möglichst wenig nach draußen zu gehen.

Auch Jesper Weber, ein 40-jähriger Berliner, der seit 19 Jahren in Tokio lebt, harrt vorläufig noch aus. Zwar hat er den Notkoffer schon gepackt. Aber noch denkt er nicht an Flucht. Erst wenn das Auswärtige Amt die Order zur Ausreise geben sollte, würde er mit seiner Frau aufbrechen. Schwierig wäre die Flucht im Moment nicht, denn die Tokioter Flughäfen sind in Betrieb. Bei mehreren Luftverkehrsgesellschaften sind noch noch Tickets für Flüge von Japan nach Europa erhältlich. Bei der Lufthansa befanden sich gestern Nachmittag alle vier planmäßigen Flüge nach Frankfurt oder München auf dem Weg nach Deutschland.

Obwohl es in Tokio so ruhig ist, fühlt sich Jesper Weber allmählich mit seinen Kräften am Ende. All die Tage hat er fast rund um die Uhr am Fernseher und im Internet verbracht. Alle Sender berichten ausschließlich über das Beben und die Rettungsaktionen, seit Freitag, 14 Uhr 46, wurde kein einziger Werbespot mehr ausgestrahlt. „Auch wenn sich die Lage in Tokio einigermaßen normalisiert hat“, sagt er, „um so mehr begreift man hier, was sich 250 Kilometer weiter nördlich abspielt. Und das kann man eigentlich nicht verarbeiten. Erst jetzt wird uns das alles richtig bewusst.“ Dazu kommen die ständigen Nachbeben. Man gewöhne sich an diesen Ausnahmezustand, aber gerade das sei ein Problem, weil man nun nicht mehr mit genügend gesunder Angst reagiere. „Die Nachbeben hätten uns in ihrer Stärke vor drei Tagen noch kreidebleich vor Furcht werden lassen.“

Aber auch in Tokio sind die Auswirkungen der Katastrophe im Alltag noch hautnah zu spüren. Manche Restaurants haben geschlossen, weil sie keine Lebensmittel mehr kaufen können. Die Regale in den Supermärkten sind weitgehend leer geräumt – eine Folge der Hamsterkäufe. In einem Heimwerkermarkt hängt eine Liste von Produkten aus, die momentan nicht erhältlich sind: Kerzen, Batterien, Taschenlampen, Helme, Transistorradios, Wasser- und Benzinkanister, Gaskocher, Schrauben zur Absicherung von Möbeln.

Auch Markus Grasmück, ein Deutschlehrer an der Tokioter Universität, überlegt in diesen Stunden, ob er nicht sofort mit seiner Frau in deren Heimat fliegen sollte, nach Thailand. Für zwei Wochen vielleicht oder einen ganzen Monat. Aber etwas sträubt sich in Grasmück gegen den Gedanken, Japan ausgerechnet jetzt zu verlassen. „Ich lebe schon 15 Jahre hier, ich will die Leute nicht im Stich lassen.“

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll“, sagt er mit ruhiger Stimme, der man die Anspannung jedoch anmerkt. „Wenn ich auf ,Spiegel Online‘ gehe, habe ich das Gefühl, der Super-GAU ist schon da. Im japanischen Fernsehen wird dagegen wenig emotional über das Unglück in Fukushima gesprochen.“ Gerade hat er versucht, sich Informationen aus erster Hand von der Internetseite der Firma Tepco, dem Betreiber des Akws Fukushima, zu holen – ohne Erfolg. Die Seite sei unter dem großen Ansturm zusammengebrochen. „Ich bin hilf- und ratlos“, sagt Grasmück. So hilflos wie eine ganze Nation.

Mitarbeit Rainer W. During

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