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Panorama: Japan: Kinder der Seifenblase

In ist die blutbespritzte Krankenschwesterkluft, das geschminkte blaue Auge und der Sado-Mundschutz aus schwarzem Leder mit Nieten. Die glänzenden Plateaustiefel, der grelle Minirock und die zerrissenen Strumpfhosen.

In ist die blutbespritzte Krankenschwesterkluft, das geschminkte blaue Auge und der Sado-Mundschutz aus schwarzem Leder mit Nieten. Die glänzenden Plateaustiefel, der grelle Minirock und die zerrissenen Strumpfhosen. In ist es, den ganzen Sonntag auf dieser Brücke in Tokios Einkaufsviertel Harajuku herumzuhängen und sich von neugierig-geschockten Touristen ablichten zu lassen.

Out ist der Tag danach, denn dann ist wieder Montag, und da tauschen sie den schrillen Sonntagsanzug gegen die schlichte Schuluniform. Tradition, Gruppenzwang, Pflichtbewusstsein? Die Säulen des japanischen Wertesystems kommen bei Nippons Jugend nicht mehr an. Auffallen wollen sie, provozieren und ausbrechen aus dem kollektiven Teufelskreis von Schule und Job. Der beginnt schon in der ersten Klasse: Mütter schneidern ihren Kleinen Turnbeutel und Taschentücher, zentimetergenau. Die Maße werden von der Schule vorgegeben. Auf Individualität wird in Japan keinen großen Wert gelegt. "Stemmt man sich gegen den Strom der Mehrheit, wird man von Mitschülern und Lehrern gemobbt", sagt Keiko Okuchi, Leiterin der Tokyo Free School, in der die steigende Zahl von Schulverweigerern eine neue Chance bekommen soll. In den Tokioter Szenevierteln von Shibuja und Shinjuku geht es weniger um den Turn- als um den Geldbeutel. Gucci, Swatch und Partys sind teuer. Jeder zehnte Japaner unter 30 Jahren wechselt mehr als einmal im Jahr den Job.

Vielleicht hätten sie gerne einen fest Job, aber das Leben ihrer Väter mit einemzwölf-Stunden-Tag, das wollen sie nicht. Sie wollen dass ihr Leben wie ein Videoclip ist. Wie gut für die regierende Liberaldemokratische Partei (LDP), dass ihr Regierungschef hipp ist. Denn Junichiro Koizumi (59) wirkt nicht wie aus dem nächsten Shinto-Schrein entstiegen, sondern eher wie der Held aus einem Roman des Pop-Literaten Haruki Murakami. Koizumi ist der coole Rebell mit den langen grauen Schläfen, der Rock-Musik mag und auf der Regierungs-Homepage seine liebsten Karaoke-Songs preisgibt. Zwar stammt er aus einer Politikerfamilie und absolvierte die klassische Beamtenkarriere - doch Koizumi ist locker. "Löwenherz" nennt er sich selbst gerne, und das kommt an bei den Kids, die für gute Stories immer zu haben sind. Fast 300 000 Handyanhänger mit der Koizumi-Miniatur gingen in den vergangenen Wochen über den Ladentisch. 10 000 Koizumi-Plakate werden pro Tag verkauft.

Aber nicht nur der Pop-Premier entzückt die Jugend. Auch Koizumis Sohn Kotaro ist auf dem besten Wege, ein Star zu werden. Auf einer Filmpremiere in Tokio kündigte der 23-jährige vor 150 Reportern und 26 Kamerateams pflichtbewusst an, in seiner Ausbildung als Schauspieler hart an sich zu arbeiten. Die Verträge mit einer Unterhaltungsfirma sind geschlossen, und so könnte es sein, dass der Junior bald den Vater in Sachen Popularität überholt. Doch die scheint ungebrochen. Trotz der Ankündigung schmerzhafter Reformen, um die marode Wirtschaft der Japan AG wieder auf Trab zu bringen, stimmen über 80 Prozent aller Japaner der Politik ihres Premiers zu. Koizumi, gestern erst von der LDP für zwei Jahre als Partei- und damit als Regierungschef bestätigt, muss die höchste Staatsverschuldung unter den Industrieländern bekämpfen. "Die totale Umkehr" bisheriger Politik kündigte er an.

Ein Neuanfang kann den Jungen nur Recht sein. Ein Drittel der Japaner sind nach 1970 geboren. Aufgewachsen in der glänzenden Seifenblasen-Ära, in der Japan zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht aufstieg, war der Boom in den 90er Jahren vorbei. Aber auflehnen gegen die verkrusteten Strukturen? Revolution ist keine Sache einer elektronischen Avantgarde, die zufrieden mit ihren Spielzeugen ist.

Erst mit dem neuen Premier stieg das Interesse an der Politik: junge Mädchen sehen sich die Parlamentsdebatten im Fernsehen an, weil sie "Jun-chan", wie sie ihn nennen, süß finden. Koizumi bringt Kult in die Politik, sagen viele, doch der Mann mit der Löwenmähne ist nicht jemand, der seine konservativen Wurzeln vergisst. Wenn der Premier am 15. August, dem Jahrestag der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg, wirklich zum umstrittenen Yasukuni-Schrein in Tokio pilgert, wird es wohl keinen empörten Aufschrei geben. Der Schrein, nationale Gedenkstätte für 2,5 Millionen japanische Kriegsgefallene, enthält auch die Namen von 14 hingerichteten Kriegsverbrechern. Aber am Mittwoch ist Schule, und die jungen Wilden treffen sich erst wieder am Sonntag auf der Brücke in Harajuku. Und welche Revolution beginnt schon am Sonntag?

Andreas Wunn

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