zum Hauptinhalt
Ein Holzstich zeigt die erste Probefahrt der Londoner U-Bahn im Jahr 1862.

© epd

Jubiläum bei der Londoner U-Bahn: 277 Stationen und ein besonderer Geruch

Londons U-Bahn wird 150 – für viele Städte war die „Tube“ richtungsweisend. Bis heute setzt die U-Bahn in der britischen Metropole Maßstäbe.

Am 9. Januar 1863 war die Eröffnungsfahrt für geladene Gäste, am 10. Januar nahm die „Metropolitan Railway“ den Betrieb auf. 30 000 Menschen fuhren am ersten Tag mit der neuen „unterirdischen Eisenbahn“ auf der Strecke vom Bahnhof Paddington nach Farringdon. Neugier und Hoffnung auf urbane Bequemlichkeit bezwangen Angst und Ekel vor den neuen „Trains in the Drains“, den „Kloakenzügen“. Premierminister Lord Palmerston gehörte nicht zu denen, die sich auf die Neuerung einließen. In seinem Alter wolle man so lange wie möglich über Tage bleiben, lehnte der 79-jährige die Einladung ab.

Ein Ausländer verglich das Erlebnis mit einer Höllenreise: „Das Abteil, in dem ich saß, war voller Passagiere, die Pfeife rauchten, wie es Art der Briten ist. Der Rauch und Schwefel der Lokomotive füllte den Tunnel, alle Fenster müssen fest geschlossen bleiben. Die Luft war eine Mischung aus Schwefel, Kohlenstaub und dem schmutzigen Rauch der Öl-Laternen. Als wir Moorgate Street erreichten, war ich vor Erstickung und Hitze fast tot.“

1867 starben drei Passagiere an Rauchvergiftung. Lüftungsschächte wurden gegraben, dampfarme Lokomotiven gebaut, Apotheker verkauften eine „Metropolitan-Mixtur“, die nach der Fahrt die Lungen reinigen sollte. Aber die Gentlemen der City in ihren Bowlerhüten begannen ungestört im Schummerlicht der Gaslaternen der Underground die Zeitung zu lesen und schufen eine Tradition, die bis heute gilt: Londoner in der U-Bahn ignorieren, entschlossen und blasiert, alles, was um sie herum geschieht, erst recht das Unangenehme. Die erste Fahrt kostete drei bis sechs Pennys. Es gab Wagen erster, zweiter und dritter Klasse, aber die Underground brachte reiche Lords und ihre Diener, Banker und ihre Putzfrauen zusammen.

Nichts hat Londons Stadtentwicklung, seine Sozialgeschichte, seine Architektur so geprägt wie die „Underground“. Es war die Tat privater Unternehmer. Schon im ersten Jahr machte die Metropolitan Railway satten Profit – 102 000 Pfund. Das wären heute 50 Millionen Pfund. Der Metropolitan folgte die „District Railway“, die Verbindung der beiden ergab den „Inner Circle“. 1890 war die Tunnelbautechnik so weit entwickelt, dass die erste Linie auf tiefer Ebene nach Stockwell gebaut werden konnte. Heute ist die Linie Teil der „Northern Line“. Es war die erste elektrische Eisenbahn der Welt. Die Züge rollten fensterlos durch die schmale Tunnelröhre, zu sehen gab es ja nichts. Damals erhielt die U-Bahn ihren heutigen Namen: „Tube“ – die Röhre.

In Paris, wo der U-Bahn-Bau als nationale Aufgabe von Staatsbeamten vorangetrieben wurde, begann das U-Bahn-Zeitalter erst 1900 zur Weltausstellung: London hatte zu diesem Zeitpunkt schon fünf Linien, die Stadt expandierte in immer weiter entfernt liegende Vorstädte: Das prägt bis heute den Unterschied zwischen dem urbanen, kompakten Paris und der Flächenstadt London mit ihren endlos aneinandergereihten Dörfchen und Städtchen aus Reihenhäuschen, die selten mehr als drei Stockwerke haben. Pariser Linien beschränken sich aufs Stadtzentrum, die Stationen sind nur Hunderte von Metern entfernt. In London liegt die weiteste U-Bahn-Station, Amersham, 39 Kilometer entfernt vom Trafalgar Square.

Bis heute ist die „Underground“ bewundert und gehasst. Die 14 Linien haben nicht kalt wirkende Nummern wie in Berlin oder Paris, sondern Namen – die dunkelviolette Metropolitan Line, die gelbe Circle Line , die blaue Piccadilly Line, die rote Central Line. Es gibt 277 Stationen, die tiefste, Hampstead, liegt 60 Meter unter Straßenniveau. Die längste Rolltreppe in Angel ist 60 Meter lang. Das Netz verfügt über 402 Streckenkilometer, wobei die moderne Ergänzung der „Dockland Light Railway“ nicht eingerechnet ist. Jährlich werden 1,2 Milliarden Menschen befördert, die Pariser Metro schafft 1,4 Milliarden, aber nur, weil die Züge der Regionalbahn „RER“ hinzugerechnet werden. Am 7. August 2012 transportierte die Underground während der Olympischen Spiele 4,5 Millionen Menschen, die größte Passagiermenge ihrer Geschichte.

Backsteinmauern mit Überwachungskameras

Bis 1933 waren die Untergrundlinien Privatunternehmen. Anschließend kamen sie unter die gemeinsame Aufsicht einer neuen Verkehrsbehörde, des „London Passenger Transport Board“ (LPTB) – und die glorreiche Periode der Londoner Underground begann: Mit Mitteln des modernen Designs wurde die U-Bahn zum ersten Mal als „Netz“ begriffen. Entscheidend war war die schematische Karte von Harry Beck aus dem Jahr 1931, die zum Vorbild für alle U-Bahn-Systemkarten in der Welt wurde.

Die Underground hatte auch ihre Katastrophen: 1975 wurden bei einem Unglück beim Bahnhof Moorgate 42 Menschen getötet – möglicherweise weil der Fahrer Selbstmord verübte. Beim Feuer in der Station King’s Cross im Jahr 1987 entzündete eine weggeworfene Zigarette einen Haufen Müll im Schacht einer Holz-Rolltreppe. In dem Flammeninferno wurden 31 Menschen getötet: Das Desaster führte zum kompletten Rauchverbot auf der U-Bahn. 2005 töteten vier Terroristen sich selbst und 52 Zug- und Buspassagiere. Aber nach all diesen Schocks rafften sich die Londoner am nächsten Tag wieder auf und machten weiter wie immer. Die U-Bahn ist das Blut, das durch Londons Adern fließt.

Übermäßige Geldmengen wurden nie in das System gesteckt. Bahnhöfe wie Farringdon sehen heute noch aus wie am ersten Tag, nur dass an den alten Backsteinmauern Überwachungskameras eingedübelt sind. Immer wieder gab es aber bahnbrechende Neuerungen. Die Einführung des elektronischen Ticketsystems auf der Basis von Lesegeräten und der Ausbau der Kameraüberwachung haben nicht nur die Sicherheit erhöht, sondern das Londoner U-Bahn-System zu einem der saubersten in Europa gemacht – weil nur noch zahlende Gäste Zutritt haben.

Die Pariser Metro riecht nach Urin und Gummi, Londoner atmen in den Schächten den Geruch von Desinfektionsmitteln, frischem Beton und Gusseisen. „Von frühester Kindheit an genoss ich den Geruch auf den Bahnsteigen der tiefen Underground-Linien“, schwärmte ein Blogger in der Internetdebatte über „den Geruch der Underground“. Der Geruch, der Lärm, die Windstöße, die einen Zug ankündigen, gehören zum Gefühl der Geborgenheit, das viele in der U-Bahn spüren.

Für die „Tube“ wird 2013 ein Feierjahr. Sonderausstellungen, Sonderbriefmarken und Bücher feiern die erste Underground der Welt. Und wer sich den Preis eines Tickets von umgerechnet 210 Euro leisten kann, versucht mit der ersten U-Bahn-Reise per Dampflok seit 120 Jahren dem Reisegefühl der ersten U-Bahn-Nutzer nachzuspüren. Ein Teakholzwagen von 1892 und die Metro-Lok Nummer 1 von 1898 wurden liebevoll restauriert. „Es war wie eine Reise im Hühnerstall“, lachte Peter Hendy, Chef der Verkehrsbehörde, nach der ersten Testfahrt.

Zur Startseite