zum Hauptinhalt
070802komatrinker

© dpa

Junge Koma-Trinker: "Saufen bis der Arzt kommt"

Die Zahl der jungen Kampftrinker, mit denen es die Ärzte zu tun haben, nimmt stetig zu. Eine Reportage aus einem Kinderkrankenhaus in Hannover.

Der schmuddelige Boden eines Festzeltes auf dem Schützenplatz in Hannover dürfte das Letzte sein, an das sich Daniel nach dem Aufwachen erinnern wird. Von dort haben sie ihn aufgelesen, als er nach einem ausgiebigen Trinkgelage zusammengesackt und nicht mehr ansprechbar war. "Saufen bis der Arzt kommt" muss das Motto des Abends gewesen sein. Und der Arzt kam dann tatsächlich, alarmiert von Daniels Freunden. Sie fanden, dass er "'n bisschen komisch" gewesen ist. Jetzt liegt Daniel in einem Bett auf dem Flur der Notaufnahme im Kinderkrankenhaus auf der Bult in Hannover. Kinderkrankenhaus - denn Daniel ist erst 16. Er ist einer jener jungen Kampftrinker, mit denen es die Ärzte inzwischen reihenweise zu tun haben.

"Es gibt kein Wochenende mehr, an dem nicht komatös betrunkene Jugendliche eingeliefert werden", sagt Assistenzärztin Daniela Gad. Chefarzt Thorsten Wygold schätzt ihre Zahl auf "jährlich 120 bis 140, Tendenz steigend". Alle Trinker bis zum Alter von 18 Jahren landen im Kinderkrankenhaus. "Der Jüngste war elf", erinnert sich Gad. Hier gebe es keine Unterschiede zwischen den sozialen Schichten: "Alles trinkt."

Daniel ist zum ersten Mal in diesem erbärmlichen Zustand "auf der Bult". Mit Freunden hat er gefeiert auf dem "größtem Schützenfest der Welt", das an diesem Freitagabend im Juli ein buntes Volksfest mit Buden und Karussells gewesen ist. Zwei seiner Freunde haben ihn auf der Fahrt mit dem Rettungswagen begleitet. Als die Johanniter den jungen Mann in die Notaufnahme schieben, hält ihm einer seiner Kumpels die Hand. Auch dieser fürsorgliche junge Mann sieht mit seinen roten Wangen und den leicht glasigen Augen nicht aus, als ob er sich den Abend über an einem Wasserglas festgehalten hat. Die Frage einer Schwester, ob er noch nüchtern sei, beantwortet er grinsend mit einem "mehr oder weniger. Ich muss hier heute Nacht nicht hin."

Schutzreflexe gehen verloren

Daniel aber muss bleiben. Sich sinnlos zu betrinken, sei lebensgefährlich, erklärt Medizinerin Gad. "Die Betrunkenen verlieren ihre Schutzreflexe. Wenn sie zum Beispiel irgendwo draußen liegen, merken sie nicht, dass ihnen kalt ist. Sie zittern nicht mehr und können unterkühlen." Das Thermometer zeigt an diesem Abend Werte von kaum 13 Grad. Bei einem Leidensgenossen von Daniel, der ebenfalls ins Kinderkrankenhaus gebracht wird, beträgt die Körpertemperatur 35,2 Grad. "Außerdem kann Erbrochenes in die Lunge laufen und sie ersticken." Zwei junge Männer spucken in dieser Nacht Bett und Klamotten voll. "Oder sie unterzuckern. Das kann schwere Krampfanfälle auslösen."

Das erste betrunkene Sorgenkind wurde schon gegen acht Uhr abends gebracht: Eine 16-Jährige, die gerade die Schule abgeschlossen hat. Sie wollte mit Freundinnen zum Bowlen. Davor aber haben sie sich "im Supermarkt noch was gekauft. Leider Erdbeersekt", erzählt die diensthabende Ärztin. "Ihr ist dann sehr schlecht geworden." Für Daniela Gad ist dieses "Vorglühen" eines der markanten Kennzeichen der jungen Alkoholopfer. Billiger hochprozentiger Alkohol oder auch Getränke, die schön bunt und schön süß sind, würden zur Einstimmung auf die Party-Nacht getrunken. "Viele fallen dann schon vor der Disco um", stellt Gad nüchtern fest.

"Wodka, Bier, alles Mögliche"

Vor allem Wodka, gemischt mit Sirup oder Säften, sei sehr beliebt. "Wodka, Bier, alles Mögliche", haben auch dem 16-Jährigen Peter auf seiner Schulabschlussparty den Rest gegeben. Jetzt hängt der junge Mann mit den kurzen, gegelten, blonden Haaren in stabiler Seitenlage auf einer Liege und bekommt nicht mehr allzu viel mit. Als ihm eine Krankenschwester allerdings ankündigt, gleich werde sich ein Kinderarzt um ihn bemühen, wird er unwirsch: "Was für'n Kinderarzt. Ich will'n normalen Arzt. Seh ich aus wie ein Kind?", lallt er und bleibt anschließend lethargisch liegen.

Doch egal ob Kinderarzt oder nicht - Peter bekommt die gleiche Behandlung, die bei halbwegs unauffälligen Betrunkenen zunächst üblich ist. Blutdruck und Temperatur messen, Pupillen anleuchten, eine Infusion mit Glucose-Lösung legen, wasserdichte Unterlage unter den Kopf und eine Windel um. "Sie übergeben sich, sie nässen ein, sie koten ein", schildert Dr. Gad ihre Erfahrungen. "Deswegen werden sie gepampert." Ihren Rausch schlafen sie dann in ganz normalen Krankenzimmern aus, umgeben von anderen Patienten, die meist viel kleiner sind. Gad: "Das ist für die dann schon sehr peinlich, wenn sie am nächsten Morgen aufwachen mit einer Windel am Po, und dann sitzt da ein Kleinkind, guckt mit großen Augen und fragt: "Mama, was hat der Mann da?""

Peter, der zwar nur noch Wort-Brocken rausbringt, aber immerhin ansprechbar und ruhig ist, bereitet den Ärzten kaum Kopfzerbrechen. Anders sieht es bei Kevin aus. Der 17-Jährige redet ohne Unterlass, und seine Stimmung schwankt dabei zwischen der Verzweiflung und der Aggressivität eines Betrunkenen. Mit einem: "Mir geht's wunderbar" will er sich von der Liege schwingen. Die Schwestern und die Ärztin können gerade noch verhindern, dass er runterkippt. "Ich meine, ich bin ziemlich unverschämt zu ihnen. Sie helfen mir hier, und ich bin ziemlich unverschämt", schwadroniert er. Dann sorgt er sich um seine Mütze mit dem Emblem des Fußball-Clubs Hannover 96 und murmelt ein weinerliches "Schuldigung, Schuldigung."

Vom Schützenfest in die Kinderklinik

Währenddessen rollt schon der nächste Rettungswagen die gepflasterte Einfahrt zum Ambulanzzentrum hoch. Im fahlen Licht der neun Deckenleuchten vor der automatischen Eingangstür wird Martin ausgeladen. Der 17-Jährige schläft, sein weißer Kapuzen-Pulli ist fleckig, die Jeans schmutzig, etwas Sabber hängt ihm im Mundwinkel. "Wodka, Bier, Apfelkorn", berichtet der Rettungsassistent die Eckdaten von Martins Schützenfest-Besuch. Kinderkrankenschwester Nicole Drinkhut kümmert sich um den 17-Jährigen, als dieser kurz die Augen aufschlägt. "Ach, da ist ja einer wach. Guten Morgen!", ruft Drinkhut. "Ohh, fuck", stöhnt der Gymnasiast.

Kevin wird inzwischen immer unruhiger. Er will jetzt "eine Rauchen". Ärztin und Schwestern reden auf ihn ein: "Das geht nicht. Hier sind überall Rauchmelder. Die gehen dann los und die Feuerwehr kommt." Erfolglos. Kevin schaltet endgültig auf stur und wird noch aggressiver. Es wird entschieden, ihn zum Schutz am Bett festzugurten, aber der 17-Jährige lässt sich nicht bändigen. Die Ärztin ruft die Polizei: "Wir haben hier einen 17-Jährigen, der zunehmend aggressiv wird, und den wir nicht fixieren können." Wenige Minuten später eilen vier Polizisten in die Notaufnahme. Ihnen gelingt es schließlich, Kevin festzuschnallen.

Die Kinderkrankenschwestern geraten spürbar unter Druck. Martin im Raum 9 wird übel. Drinkhut und ihre Kollegin Claudia Meyer halten seinen Kopf über eine nierenförmige Pappschale. "Das ist echt hart an der Grenze", meint Drinkhut und wirft die Schale wenig später mit spitzen Fingern in einem Müllbeutel. Vier kleine hell braune Teddys mit weißen Schnauzen sind die einzigen im dem grell erleuchteten Zimmer, die noch lächeln.

Alles voller Schnapsleichen - Patienten müssen warten

Zwischen all den Schnapsleichen kommt nun die erste kleine Patientin ins Ambulanzzentrum. Das Mädchen ist schlaftrunken und schluchzt auf Papas Arm. Die besorgten Eltern haben das Kind in eine türkis-weiß-karierte Decke gewickelt. Das Mädchen sieht sehr matt aus. Schwester Drinkhut bittet die Familie, sich ins Wartezimmer zu setzen. "Sie müssen sich ein bisschen gedulden", sagt sie freundlich. Wie lange? "Ich denke, eine Stunde bestimmt." Das macht die Mitarbeiter wütend: "Es kann doch nicht sein, dass unsere kleinen Patienten darunter leiden, dass sich die Jugendlichen die Kante geben."

Die nächste Patientin, Katharina, kommt mit einem Rettungswagen des Deutschen Roten Kreuzes. Die Prozedur mit der Pappschale bleibt den Schwestern bei der 16-Jährigen erspart. Sie hat schon unterwegs gespuckt, berichtet der Sanitäter. Das dunkelblonde Mädchen dämmert vor sich hin. "Das war eine Gartenparty. Minimum eine dreiviertel Flasche Wodka. Die hauen sich da ordentlich die Glocke voll", meint der DRK-Mann. Schwester Meyer versucht die 16-Jährige anzusprechen. Sie antwortet, wenn auch mit dünnem Stimmchen. "Die ist ganz lieb", stellt Meyer erleichtert fest.

Eltern suchen Schuld bei "scheinheiligen Politikern"

Martins Eltern sind derweil ins Krankenhaus gekommen. Die Mutter blickt ein wenig traurig auf ihren reglosen Sohn, der Vater versteht nicht so recht, warum der 17-Jährige dableiben muss. "Wenn ich meinen Sohn jetzt mit nach Hause nehmen würde, würde er genauso friedlich schlafen." Wütend sei er auf Martin nicht. Aber sauer ist er auf die "scheinheiligen Politiker", die erst vollmundig so genannte Flatrate-Partys verböten und dann ein paar Tage später die Bierfässer auf dem Schützenfest anstächen. Auf dem Volksfest müsste viel schärfer kontrolliert werden, was da an Alkohol an wen abgegeben wird, fordert er. "Alkohol erst ab 21, so wie in Amerika, damit hätte ich kein Problem."

Auch dem 16-Jährigen Sebastian wäre dann vielleicht die Nacht im Krankenhaus erspart geblieben. Die Feuerwehr hat ihn vom Gehweg mitgenommen. Drei Freunde schafften es nicht mehr, den Volltrunkenen hochzuhieven. In der Notaufnahme müssen wieder die Pappschalen gezückt werden. Danach plumpst der Junge mit den zerfetzen Jeans und dem angedeuteten Irokesen-Haarschnitt bäuchlings von einer Trage auf eine Liege und bleibt reglos liegen. Die Behandlung der Ärzte wird dafür sorgen, dass es ihm am nächsten Morgen wieder gut geht. Die Infusion mit der Zuckerlösung bewirkt, dass ihm die Strafe für das Zechgelage - ein übler Kater - erspart bleibt.

Arzt: Jugendliche werden über Werbung zum Trinken animiert

Chefarzt Wygold beobachtet den Hang zum Alkohol bei Kindern und Jugendlichen mit großer Sorge. Er macht die Industrie dafür mit verantwortlich. "Die Jugendlichen werden über die Werbung in ein Konsumschema gepresst und zum Trinken animiert", meint er. Der Mediziner fordert zudem, dass die Abgabe von Alkohol an Minderjährige schärfer kontrolliert werden müsse. "Wir müssen nicht die Jugendlichen sanktionieren, sondern diejenigen, die ihnen den Alkohol verkaufen." Assistenzärztin Gad pflichtet ihm bei: "Es kann ja nicht die Lösung sein, dass wir denen eine Infusion anhängen."

Birgit Zimmermann[dpa]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false