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Panorama: Kammer des Schreckens

In einer Pariser Klinik wurden 351 Leichen tot geborener Säuglinge und Föten entdeckt

Die Säuglingsstation des Krankenhauses Saint-Vincent-de-Paul im 14. Bezirk von Paris gehört zu den angesehensten des Landes. Dort erblicken jährlich 2500 Kinder das Licht der Welt.

Jetzt aber wurde dieser Ort zum Schauplatz eines grausigen Fundes. Wie erst am Mittwoch bekannt wurde, entdeckte ein leitender Angestellter des Spitals vor drei Wochen in einer Leichenkammer 351 Leichen von tot geborenen Säuglingen und Föten. Einige Leichen und Leichenteile waren in einer konservierenden Lösung, andere in Müllsäcken aufbewahrt. Sie lagerten teilweise seit über 25 Jahren in der Kammer. „Was ich gesehen habe, hat mich äußerst schockiert“, sagte der sichtlich bewegte Gesundheitsminister Xavier Bertrand am Dienstagnachmittag, nachdem die Krankenhaus-Verwaltung ihn über den Fund informiert hatte. Er wolle die Wahrheit ans Licht bringen, sagte der Minister. Premierminister Dominique de Villepin ordnete eine Untersuchung durch die Dienstaufsichtsbehörde IGAS an. Zudem schaltete er den französischen Ethikrat ein.

Die Pariser Staatsanwaltschaft nahm die Ermittlung sofort auf. Die Kriminalpolizei und die Gerichtsmediziner sicherten das Beweismaterial, erklärte die Staatsanwaltschaft, ohne weitere Angaben machen zu wollen.

Nun rätselt Frankreich über Sinn und Zweck dieser grauenvollen Lagerung.

Nach Meinung des Genforschers Axel Kahn seien solche Praktiken „alte Gewohnheiten aus fernen Zeiten“, die bis ins 20. Jahrhundert hinein in sämtlichen Krankenhäusern gang und gäbe gewesen seien. „Man bewahrte ,Missgeburten‘ oder Totgeborene zu Forschungszwecken auf“, sagte der Medizinprofessor. Daran habe niemand Anstoß genommen – bis heute. Denn nach einem Gesetz von 1993 müssen tot geborene Kinder auf Kosten des Krankenhauses eingeäschert werden, wenn ihre Leichen nicht innerhalb von zehn Tagen von den Angehörigen bestattet werden. Im Fall von Saint-Vincent-de-Paul wurden die Föten also unter völliger Missachtung des Gesetzes aufbewahrt.

Nach Informationen aus der Pariser Krankenhaus-Verwaltungsbehörde seien lediglich fünf Personen in Besitz eines Schlüssels zu der Kammer gewesen. Über deren Identitäten will die Behörde keine Angaben machen. Ob Ärzten oder Forschern die sterblichen Überreste als Forschungsobjekte gedient haben, ist auch nicht bekannt. „Wir stehen vor einem Rätsel“, sagte der Chef der Behörde Jean-Marc Boulanger. Die Türschlösser wurden am Dienstagabend ausgewechselt. Die Affäre hatte die 28-jährige Caroline Lemoine ins Rollen gebracht. Die junge Frau hatte ihr Kind 2002 nach viereinhalb Monaten verloren. Drei Jahre lang habe sie „den Mut nicht aufbringen können“, sich nach dem Verbleib der Säuglingsleiche zu erkundigen, erzählte sie der Tageszeitung „Libération“ am Mittwoch.

Erst im vergangenen Mai bat sie im Krankenhaus um Auskunft über das Schicksal des Fötus. Zunächst fand die Verwaltung nur Belege für eine Autopsie, die nach der Operation vorgenommen worden war, nicht aber für die gesetzlich vorgesehene Einäscherung. Nach minutiöser Recherche spürte ein Angestellter des Krankenhauses die Babyleiche auf – und stieß dabei auf den entsetzlichen Fund. Unter den Leichen befand sich auch Caroline Lemoines totes Kind. Vor zwei Wochen holte sie die Einäscherung nach. Die Asche wurde auf dem Friedhof Thiais in der Nähe der französischen Hauptstadt verstreut. Dort gibt es eine Stelle, die eigens für Totgeborene vorgesehen ist: den „Platz der Engel.“

Guillaume Decamme[Paris]

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