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Panorama: Katapult ins Extrem

Der neue Trendsport heißt Kitesurfing: mit dem Lenkdrachen hohe Sprünge machen. Jetzt starb die erste Deutsche

Von Annette Kögel, Honolulu

Die Beine gen Boden stemmen, den Kopf in den Nacken legen: Dort oben fliegt er, der Schirm, und wartet nur darauf, einen nach vorn zu katapultieren. Jetzt das Trapez einhaken – und man ist eins mit dem Fluggerät. Am Strand weht nur ein laues Lüftchen, doch der Zug an der Kitedrachenschnur fühlt sich fast so an, als wehte ein Orkan: eine unglaubliche Kraft. Dann zieht der Schirm an, und die Fahrt auf dem kleinen Surfbrett übers Wasser beginnt – bis zu 60 Stundenkilometer schnell und mit haushohen Sprüngen in die Luft. Fliegen wie ein Vogel: Faszination und Verhängnis zugleich. Denn beim neuen Trendsport Kitesurfen war jüngst das erste deutsche Todesopfer zu beklagen. Silke Gorldt, 26, wurde an der Ostsee über den Strand zu Tode geschleift. Langsam wird die Gemeinde der Kiter problembewußt – allen voran Marlene Brudek, 33, aus Wilhelmshaven. Sie überlebte den Katapult-Sturz gegen den 6. Stock eines Hauses, anschließend übers Dach hinweg bis in die Leitplanke auf der Straße dahinter.

Zu risikofreudig, zu sorglos haben sich Wassersport-Hedonisten der in Europa noch jungen Extremsportart hingegeben. Sie denken, ein Blick in Hochglanzmagazine wie „kite-boarding.de“ oder auf den Video-Bildschirm einer Sportsbar genügt, um den sieben bis 22 Quadratmeter großen Lenkdrachen mit Luftkammern zu beherrschen. Der Trendsport boomt: rund 15000 Kitesurfer gibt es bereits in Deutschland, allein 4500 machen dieses Jahr eine Schulung mit. Dass Naturgewalten ihre Opfer fordern, kalkulieren viele der jungen Wilden, die ohne Ausbildung aufs Wasser gehen, sogar mit ein. „Von Quetschungen, blaue Flecken, Schnittwunden oder gar Knochenbrüche bleiben viele nicht verschont“, sagt Andreas Haase vom Berliner Surfgeschäft „On Top“ in Charlottenburg. Doch so extrem die Bedingungen, so extrem sind die Glücksgefühle beim fliegenden Galopp überm Meer zwischen Seekühen, Schildkröten und Delphinen.

Silke Gorldt, von den Medien gerade noch als sympathische, toughe Frau jenseits des Sport-Mainstreams gefeiert, kannte diesen Seelenrausch. Bis ihr Anfang Juni der Schirm eines Konkurrenten zum Verhängnis wurde. Die beiden übersahen sich auf den Wellen vor Fischland-Darß, ihre Leinen verhedderten sich, und die „beiden Drachen schleppten die Profi-Kiterin aus Varel über den Strand, schmetterten sie gegen Buhnen und Bretterzäune“, schrieb jüngst „Der Spiegel“ über den spektakulären Todesfall. Silke Gorldt starb auf dem Weg ins Krankenhaus.

Marlene Brudek, 33-jährige Inhaberin eines Surfladens in Wilhelmshaven, hatte vor rund einem Jahr mehr Glück. „Ich bin noch von oben bis unten mit Titan verplattet“, sagt die Ehefrau und Mutter. „Ich hatte den Fehler begangen, den Schirm auf dem Deich und vor Häusern auszubreiten.“ Dort herrscht eine besondere Aufwind-Thermik, und so riss sie eine Böe jäh in die Höhe. Das Bewußtsein erlangte Marlene erst zwei Tage nach der Operation im Krankenhaus wieder. Die Diagnose: „Beide Beine offen gebrochen, Knie zertrümmert, Arm gebrochen, Rückenwirbel angeknackst, Kiefer kaputt, alle Zähne raus, die Fußknochen auf dem Röntgenbild nur noch wie ein Sack Steine“, erinnert sie sich. Warum sich die frühere Motorradrennfahrerin sowie Windsurf- und Kitelehrerin nicht rechtzeitig vom Drachen befreite? „Ich kam da einfach nicht raus.“

Deshalb plädiert Marlene Brudek heute nicht nur bei Günther Jauch in „Stern TV“ an die Industrie, sie möge nicht nur neue Kites, Bretter und Accessoirs entwickeln, „sondern mit gleicher Intensität Sicherheitssysteme“. Mit dieser Forderung hat sich die 33-Jährige vor allem bei Entrepreneurs des Kitesurfens, „oft ohne Familie und Verantwortungssinn“, unbeliebt gemacht. Sie wollen sich nicht durch Sicherheitssysteme wie „Leashes“, also Zugschnüre, an die Leine legen lassen.

Marcus „Flash“ Austin aus Maui, Hawaii, zum Beispiel, Vorzeige-Sportler und Idol aus den USA . Zwar haben Cory Roseler aus Oregon und die Legaignoux-Brüder aus der Bretagne dem Traum des Menschen, übers Wasser zu fliegen, schon in den 80-er Jahren durch Kiteski- und Drachen-Neuentwicklungen Vortrieb gegeben. Doch in Europa befindet sich der Kitesport erst seit rund drei Jahren im Aufwind, seitdem der smarte Sonnyboy auch die deutsche Surfergemeinde bei der größen Wassersportmesse der Welt, der „boot“ in Düsseldorf, infizierte. „Flash“ hebt jeden Tag vor Kanaha Beach auf Maui ab, so hoch, dass der nahe gelegene Flughafen den tollkühnen Männern an den fliegenden Schirmen schon Startverbot erteilte. Verletzungen? „Klar. Einmal hätten mir die Leinen beinahe den Fuß abgetrennt.“ Von Robby Naish, Altvater des Windsurfens, ist mehr Verwantwortungsbewußtsein zu erwarten. Auch er steigt immer wieder vom Surf- aufs Kiteboard. „Das Gefühl ist geil.“

Industrie und Wassersportschulen baten Szenestars wie „Flash“ und Naish gerade zum Arbeitstreffen. „Wir haben Ausbildungsrichtlinien und Sicherheitsstandards erarbeitet“, sagt Claus Baalmann, Geschäftsführer des Verbandes der Deutschen Windsurfing- und Wassersportschulen in Deutschland (VDWS). Deswegen legt er vorm Gang ans Wasser einen Fünf-Stufen-Kursus ans Herz. Wie kann ich einen Kite in einer Notsituation rasch drucklos zu Boden steuern? Welche Sicherheitssysteme – mit denen sich gerade auch der TÜV Deutschland beschäftigt – müssen her? Welche Qualitätsstandards müssen beachtet werden?

Denn der Sport muss sicherer werden, wenn er der lahmenden Windsurfbranche weiter neuen Aufwind verschaffen soll, ist auch Klaus Krawelitzki, Chef des führenden Windsurf- und Tauchreise-Veranstalters „Happy“ aus dem Berliner Büro im Charlottenburger Horstweg, überzeugt. Weil ein Kiter mit bis zu dreißig Meter langen Schnüren viel Platz beansprucht, sollte man stets genügend Raum ringsherum lassen, so ein Tipp. Claus Baalmann: „Viele denken auch nicht daran, zu kontrollieren, ob womöglich Strommasten oder Bäume in der Nähe sind.“ Sie können einen Extremsportler am Lenkdrachen unerwartet unsanft auf den Boden zurück bringen. Vom Kiten auf Wannsee oder Müggelsee wird ebenso dringend abgeraten, auch wenn es Unverantwortliche mitunter nicht lassen können. Surfen hat eben Suchtcharakter, und beim Kiten kann man auch bei wenig Wind schon dahingleiten.

Bei der Kitesurf-Trophy in Orth auf Fehmarn vom 23. bis 25. August darf jetzt nur an den Start gehen, wer Helm und Prallschutzweste trägt, sagt Kite-Pionier und Mitveranstalter Achim Stuzmann. Einen Unfall kann sich auch die Veranstaltungsagentur Brandguides nicht leisten, die die zuschauerträchtige Trophy künftig regelmäßig auf die Ostseeinsel holen möchte. Zwar verzeichnen die deutschen VDWS-Schulen mit zuletzt rund 30000 ausgebildeten Windsurf-Anfängern im Jahr wieder einen leichten Aufwind. Und Autohersteller, Banken sowie Versicherungen sprechen naturbegeisterte, finanzkräftige Zielgruppen derzeit wieder mit Windsurfmotiven in der Werbung an. Doch „der Windsurfhandel ist faktisch tot“, bestätigt „On Top“-Mitarbeiter Andreas Haase aus Charlottenburg. Durch Preisdumping auf Messen und im Internet haben sich die Fachhändler gegenseitig den Wind aus den Segeln genommen. Wenn jetzt Surfer, Snowboarder, Fallschirmspringer und Lenkdrachen-Besitzer aufs Kiteboard umsteigen, wäre das ein Gewinn für die Branche. Zunehmend lassen sich auch Ärzte, Lehrer, Ingenieure und Journalisten vom Drachen aus dem Alltagseinerlei herausziehen.

Auch Marlene Brudek, dem Lenkdrachen-Tod nur knapp vom Brett gesprungen, geht inzwischen wieder kiten. Allerdings noch vorsichtiger als sonst: „Draußen bei uns an der Nordsee ist gerade Superwetter. Aber Strand und Wasser sind proppevoll, da bleibe ich doch lieber an Land.“

Kitesurf-Ausbildung im Internet: www.vdws.de .

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