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Panorama: Kein Trost in Thüringen

Bei anderen Babymorden zeigten die Nachbarn immer Trauer. Nicht so in Erfurt. Die Mutter ist in Haft

„Das ist eine Frechheit“, zischt die Rentnerin, ehe sie sich in lachsfarbener Bluse und weißer Sommerhose zum Verdauungsspaziergang wendet. Was hockt dieser Kerl Sonntagmittag auf dem Rasen vor ihrem Haus und streckt Schilder mit der Aufschrift „Warum?“ und „Schon wieder“ in die Kameras? Der Kerl im schwarzen Cut ist Gift für das Wohlgefühl, das sich in der thüringischen Landeshauptstadt unter blauem Himmel und blühenden Zierkirschen ausbreiten möchte.

Dieser 27-Jährige aus Marl im Ruhrgebiet, Timo Tasche heißt er, er ist extra wegen dieses Falles angereist, stört die Ruhe des gutbürgerlichen Hauses offenbar mehr als der grausige Fund, der in der Nacht zum Samstag in der Dachwohnung gemacht wurde: zwei Babyleichen, verpackt in schwarze Mülltüten, begraben im untersten Einschubfach eines Gefrierschrankes.

Schon wieder tote Babys in Thüringen. Erst Altenburg, wo im Januar 2006 im Keller eines Hauses zwei einbetonierte Säuglinge ausgegraben wurden. Dann das Örtchen Thörey bei Arnstadt mit drei Babyleichen in einer alten Garage. Dazwischen ein totes, tagelang allein gelassenes Kleinkind in Sömmerda und ein erwürgter Fünfjähriger Heiligabend in Erfurt. Alles bloß Zufall? Oder läuft da etwas falsch im Freistaat, der sich so gerne als das grüne Herz Deutschlands präsentiert?

Wenn sie ein Herz haben, dann haben es die paar Mieter, die sich vor die Tür trauen, auch im Kühlschrank gelassen. Keine Kerze, keine Blumen, kein Kuscheltier vor ihrem gelb gestrichenen Eckhaus, das nur einen Steinwurf vom Thüringer Landtag entfernt ist. Jetzt wünscht man sich wenigstens einen der kitschigen Engel, die immer hingelegt werden, wenn ein Kind zu Tode gekommen ist. „Aasgeier“, faucht ein Mann die Journalisten an. Anteilnahme sieht anders aus.

15 Jahre alt ist der Sohn der mutmaßlichen Täterin. Er hat die Leichen entdeckt, als er mit einem Kumpel Freitagabend allein in der Wohnung war. Seine 35-jährige Mutter war bei ihrem Freund. „Gegen 22 Uhr 50 Uhr haben die beiden Hunger verspürt und deshalb im Gefrierschrank nach etwas Essbarem gesucht“, sagt Herbert Bauer, Chef der Erfurter Kripo. Panikartig hätten sie nach dem Fund die Wohnung verlassen und seien in Erfurt herumgeirrt. Irgendwann trafen sie einen Freund, dem sie von dem Horror erzählten. Der rief die Polizei.

Seitdem läuft die Maschinerie der Ermittler, die auch wegen der anderen Fälle „bis zur Halskrause in Arbeit stecken“, wie Bauer sagt. Mutter und Freund wurden vorläufig festgenommen. Verhöre. Die 35-Jährige gibt die Geburten zu. Die Kinder hätten aber nicht in ihre Lebensplanung gepasst. Sie habe sie jedoch der Babyklappe in der Erfurter Helios-Klinik anvertrauen wollen. Doch es kam irgendetwas dazwischen. Die Ermittler verraten nicht, was. Der 40-jährige Lebensgefährte wird später freigelassen, weil er als Vater kaum in Betracht kommt. Das Paar lernte sich erst lange nach dem Tod der Babys kennen. Die Mutter schweigt über den Erzeuger der Kinder. Die Gerichtsmediziner beginnen Sonntagfrüh ihre Arbeit mit Verspätung, weil die Leichen erst auftauen mussten. Nach einem vorläufigen Befund hat der Anfang 2004 geborene Junge zumindest einige Minuten gelebt. Bei dem Mädchen, zwei Jahre früher geboren, sagen Polizei und Staatsanwaltschaft: keine näheren Angaben aus ermittlungstaktischen Gründen.

Die zehnte Klasse hat die Mutter abgeschlossen und eine Ausbildung in der Textilbranche gemacht. Die weiteren Stationen wirken wie Versuche, auf eigenen Beinen stehen zu lernen. Mit Werbung und Seminaren soll sie es versucht haben, ehe sie sie sich arbeitslos meldete. Eine mittelgroße, blond gefärbte, schlanke Frau, heißt es. Eine Geschäftsfrau? Eine Nachbarin lacht auf, ehe sie sich schnell wieder zum Gehen wendet: „Da sind so viele Männer ein- und ausgegangen.“

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