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Panorama: „Keine Angst, wir holen euch da raus“

Nach dem verheerenden Erdbeben in Algerien versuchen Helfer mit bloßen Händen, Überlebende zu retten

Viele Algerier hockten vor dem Fernseher. Das Uefa-Cup-Endspiel zwischen Celtic Glasgow und dem FC Porto war gerade angepfiffen worden. Da fingen plötzlich die Wände an zu beben. Der Strom fiel aus, der Fernseher wurde erst schwarz, dann fiel er vom Tisch. Die Menschen in Rouiba, eine Vorstadt 30 Kilometer östlich der Metropole Algier, stürzten in Panik auf die Straße. Sprangen aus den Fenstern. Soweit sie dies noch konnten. Denn plötzlich gab die Erde unter ihnen nach. Decken und Dächer krachten zusammen. Treppenhäuser und Wohnetagen stürzten in die Tiefe. Minutenlang vibrierte alles, ein Gebäude nach dem anderen fiel in sich zusammen. Komplette Wohnviertel versanken. Wurden zu Schutt und Staub. Begruben hunderte, wahrscheinlich tausende Menschen. Mauerbrocken flogen durch die Luft. Gingen auch auf jene nieder, die sich in den ersten Horrormomenten ins Freie retten konnten.

„Ganze Familien starben unter den Trümmern“ stammelt Ahmed Ouyahia, frisch gekürter Regierungschef Algeriens, in die Mikrofone. Hinter ihm zeichnet sich im Licht der Schweinwerfer eine staubige Ruinenlandschaft ab. Menschen taumeln unter Schock durch die Straßen. Graben mit bloßen Händen zwischen den Trümmern. Männer und Kinder weinen. Aus dem Gewirr von Stahl und Beton, Küchenmöbeln und Spielsachen, dringt Wimmern nach draußen. Allein in Rouiba, das sich in der Nähe des Erdbebenzentrums befindet, wurden nach vorläufiger Zählung mindestens 300 Tote geborgen. Ähnlich viele Tote auch in der Nachbarstadt Boumerdes. Unzählige Körper liegen vor den Krankenhäusern aufgereiht. Erst in Tagen oder Wochen wird man wissen, wie viele Menschenleben dieses verheerende Erdbeben wirklich genommen hat. Die Bilanz wird stündlich schlimmer. „Habt keine Angst“, ruft ein Soldat in die Trümmerlandschaft hinein. „Wir holen euch da raus.“

Tausenden von Helfern, in Uniform und ohne, fehlt es nicht an Motivation. Aber sonst an allem: Werkzeug, Kräne, schweres Räumgerät. Die überfüllten Krankenhäuser brauchen Medikamente und Blutkonserven. Patienten werden notdürftig unter freiem Himmel versorgt. Die Armee versucht, Plünderungen zu verhindern. Den Rettern gelingt es, den Körper einer jungen Frau aus den Trümmern zu ziehen. Sie bewegt sich. „Ein Wunder“, rufen die Männer, „sie lebt, sie lebt“. Soldaten hüllen sie in eine Decke. Fahren sie mit einem Lastwagen zum Hospital. Besser gesagt zu jenen Gebäuderesten, die vom Krankenhaus stehen geblieben sind. Im Laufe des Tages rollen Kolonnen von Bauarbeitern aus benachbarten Städten an: „Wir haben unsere Baustellen verlassen, um hier zu helfen.“ Im Radio laufen ständig Hinweise für die Bevölkerung: „Bitte bewahren Sie die Ruhe. Stellen sie das Gas ab. Und benutzen sie nicht die Aufzüge.“ Die Angst am Donnerstag ist groß, dass die Katastrophe noch nicht vorüber ist. Dass ein weiteres Beben neue Opfer fordern könnte.

Am schlimmsten soll es aber den Ort Thenia getroffen haben, jene Stadt, die direkt über dem Epizentrum des Erdbebens, 60 Kilometer östlich von Algier, liegt. Genauer gesagt lag. Die Nachrichten aus diesem Katastrophenzentrum sind noch dünn. Man weiß noch nicht genau, was von Thenia überhaupt übrig blieb. Auch in der Hauptstadt Algier stürzten rund 60 Wohngebäude in sich zusammen. Allein hier soll es hunderte Tote gegeben haben. Seghir, der in der obersten Etage eines Hochhauses in der Hauptstadt lebt: „Ich war gerade auf dem Balkon und schaute auf die Stadt herab, als alles zu wackeln begann.“ Häuser fielen um. „In der Ferne sah ich Staubwolken aufsteigen.“ Hunderttausende Menschen in Algier, der Hauptstadt mit drei Millionen Einwohnern, gingen in dieser Nacht nicht mehr ins Bett. Verbrachten die Nacht im Freien. Voller Angst, dass die vielen Nachbeben weitere Verwüstungen anrichten könnten.

Die 15 europäischen Urlauber, die immer noch von arabischen Terroristen in Algerien festgehalten werden, sind von dem Erdbeben nicht betroffen. Sie sollen sich nach Angaben der algerischen Behörden in einem Terrorlager im Süden des Landes befinden, rund 1500 Kilometer von Algier entfernt.

Ralph Schulze[Algier]

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