zum Hauptinhalt

Kuba: Überleben in Havanna

Früher war Tommy Reyes ein Ballettstar, tanzte in Rom und Warschau. Heute lockt er Touristen in sein improvisiertes Restaurant und hilft damit der Nachbarschaft. Eine Geschichte aus dem Kuba der Gegenwart.

Von der sonnengefluteten Straße biegt Tommy Reyes in einen dunklen Hauseingang. Er ist auf seiner täglichen Einkaufstour im Zentrum von Havanna und gerade auf dem Weg zum Schwarzmarkt. Nach ein paar Schritten gelangt er in einen Innenhof. Vier Stockwerke türmen sich über dem Erdgeschoss, mehrere hundert Menschen wohnen hier. Es ist ein Solar, ein Slum. Der Geruch von Abwasser vermischt sich mit dem von gebratenen Hühnchenfleisch. Aus einem der Stockwerke dröhnen Reggaeton-Bässe.

Reyes scheint weder Musik noch Geruch zu bemerken. Er – in weißer Stoffhose zu weißem Hemd und mit weißer Einkaufstasche – ist ganz darauf konzentriert, Pfützen auszuweichen. Während er durch den Innenhof trippelt, klirren die neun Silberketten um seinen Hals und die sechs Armreifen an jedem Handgelenk. Vor der letzten Tür im Erdgeschoss bleibt Reyes stehen und ruft: „Maria?“ Eine junge Frau mit zahnlosem Lächeln öffnet. Reyes tritt ein und schließt die Tür hinter sich. Eine Glühbirne erleuchtet den fensterlosen Raum, der gerade so groß ist wie eine durchschnittliche deutsche Wohnküche und hier Küche, Wohn- und Arbeitszimmer in einem ist. Unter der niedrigen Holzdecke frühstücken an einem Holztisch zwei Mädchen in Schuluniform. Rechts vom Eingang führt eine Leiter in den oberen Teil des Raums, ins Schlafzimmer der kleinen Familie.

„Hast du Fleisch da?“, fragt Tommy Reyes. Die Frau nickt, nuschelt „Aber nur Schweinebauch“ und holt ein Stück Fleisch aus einem riesigen Kühlschrank. Tommy streckt den Hals nach vorn, um das Fleisch zu inspizieren. „Ja, das nehme ich, für den Bohneneintopf“, sagt er und zieht einen Drei-Peso-Schein aus seinem Portemonnaie.

Dann haucht er ein Küsschen in die Luft und tänzelt durch den Innenhof, vorbei an den Pfützen, hinaus auf die Straße und weiter zu einem Metzger an einer Straßenecke, wo er noch mehr Schweinefleisch und Huhn kauft.

Tommy Reyes war früher Tänzer im kubanischen Nationalballett und führt heute das kleine Restaurant „Notre-Dame de Bijoux“ in seinem Haus im Viertel San Leopoldo im Zentrum von Havanna. Als Raul Castro im Herbst 2011 ein wenig Privatwirtschaft auf der planwirtschaftlichen Insel erlaubte, bewarb Reyes sich um eine Restaurantlizenz. Seitdem zieht er jeden Morgen durch sein Viertel auf der Suche nach Lebensmitteln, und zwar nach den günstigsten. Denn jeden Monatsanfang will der Staat 100 Dollar für die Lizenz haben. Und es ist schwierig, in Kuba mit einem Restaurant Geld zu verdienen.

Reyes sagt: „Es ist ein täglicher Kampf.“ Er sagt auch: „Es hält mich am Leben, ich habe weniger Zeit, darüber nachzudenken, wie schrecklich beschränkt das Leben in Kuba ist.“

Die kubanischen Grundnahrungsmittel Fleisch, Reis, Bohnen und Eier sind teuer, wenn man sie nicht mit den Lebensmittelmarken zahlt, die der Staat am Anfang jedes Monats ausgibt. Ein Kilo Reis zum Beispiel kostet mit Marke 80 Centavos, ohne Marke fünf Pesos, auf dem Schwarzmarkt zwei Pesos. Und alles, was in Kuba nicht zu den Grundnahrungsmitteln zählt, ist unerschwinglich. Rindfleisch zum Beispiel würde Reyes seinen Gästen nie anbieten. Niemand wäre bereit, den Preis zu bezahlen. Überhaupt kann er von einem Kubaner nicht viel für ein Essen verlangen, schließlich verdient er im Durchschnitt nur 15 Dollar im Monat. Also kostet das Essen im Notre-Dame de Bijoux einen Dollar.

Die Lebensmittel, die Tommy Reyes mit den Rabattmarken kaufen kann, reichen aber gerade, um seine Gäste zwei Tage zu bekochen. Und so geht Tommy Reyes jeden Morgen zuerst zum Schwarzmarkt. Der befindet sich in Kuba in Privatwohnungen. Deren Bewohner haben entweder Bekannte auf dem Land, die ohne staatliche Lizenz Tiere züchten und schlachten, Öl pressen oder Reis anbauen und die Lebensmittel deshalb günstiger verkaufen können. Oder sie klauen das Fleisch, die Bohnen und den Reis vom Großmarkt.

Als Tommy Reyes mit einer prall gefüllten Einkaufstasche am angewinkelten Arm und vollen Plastiktüten in der anderen Hand – er war auch noch auf dem Obst- und Gemüsemarkt – nach Hause kommt, vollführen seine drei schwarzen Chihuahuas einen Freudentanz, in lila-schwarzen Kleidchen und mit Tutu-Rock, Maßanfertigungen von einem Freund. Reyes ruft ihnen „Hola, mis amores“ zu, eilt dann, vorbei an Wohn- und Schlafzimmern, in die Küche und drückt der Köchin die Tüten in die Hand.

Tommy Reyes’ Haus ist ein kleines Museum. Auf Kommoden und schmalen Tischen stehen Porzellanfiguren aus Asien und Europa, Köpfe von Schaufensterpuppen, Schreib- und Nähmaschinen. Die Wände sind gepflastert mit Tassen und Untertassen, Tellern, Stofftieren und Bildern. Das Haus ist sein Lebenswerk.

„Es ist der einzige Ort auf der Welt, an dem ich mich wirklich wohlfühle“, sagt er. „Nur hier kann ich ganz ich selbst sein.“ Dass Reyes so denkt, hat damit zu tun, dass er schwul ist. Homosexualität gilt in Kuba noch immer als Krankheit. Die Nachbarn zum Beispiel vergessen in keinem Gespräch über Tommy Reyes, zu erwähnen, dass er ein „Problem“ habe und einen „Fehler“.

Aber Reyes hat geschafft, dass die Bewohner von San Leopoldo ihn dennoch respektieren. Wenn Reyes sich nachmittags vor sein Haus auf die Straße setzt, geht niemand vorbei, ohne ihn zu grüßen. Zum einen lieben die Kubaner, die keine Computer haben, die nicht reisen und nur das langweilige Programm von vier staatlichen Fernsehsendern ansehen können, skurrile Menschen wie Tommy Reyes. Zum anderen ist Reyes für seine Nachbarn ein Wohltäter: Er beschäftigt vier Köchinnen, zwei Kellner und zwei Jungen für alles. Der Nachbarin vom Haus gegenüber kauft er fast jeden Tag selbst gemachte Nachspeisen ab, einen Nachbarn, der vier Häuser weiter wohnt, beauftragt er alle sechs Monate, die Wände der Dachterrasse mit neuen Motiven zu bemalen – Tommy Reyes’ Haus ist einstöckig und klemmt zwischen zwei zweistöckigen Gebäuden, so dass viel Platz für Wandgemälde ist.

Das Haus hat er mithilfe von Freunden aus Italien gekauft, selbst hätte er es sich nie leisten können, als Balletttänzer verdiente er den Mindestlohn und seine Familie ist arm. Er kennt die Italiener aus seiner Zeit als Balletttänzer, in den 60er und 70er Jahren tourte er mit dem kubanischen Staatsballett durch die Welt und tanzte auch in Rom. Vor 20 Jahren, Tommy Reyes hatte gerade eine zweijährige Haftstrafe wegen Devisenbesitzes – in den frühen 90er Jahren eine Straftat – verbüßt, brachten die Italiener ihm 5000 Dollar in Pesos, als Startkapital für ein neues Leben. Tommy Reyes kaufte das Haus, beantragte und bekam eine Lizenz, um ein Zimmer an Touristen zu vermieten. Doch nach zehn Jahren war Schluss. Reyes hatte ein zweites Zimmer ohne Lizenz vermietet, eine Nachbarin hatte ihn verraten. In den Jahren danach fand er keinen Job, der ihm ausreichend Geld einbrachte, um sein Haus in Schuss zu halten. Und so musste er zusehen, wie es verfiel. Von den Decken bröckelte erst der Putz, irgendwann tropfte es durch dicke Löcher, wenn es regnete.

Das Restaurant, sagt Reyes, sei die Rettung für sein Haus gewesen. Als er alle Einkäufe ausgepackt und mit der Köchin besprochen hat, was sie daraus macht – dasselbe wie jeden Tag: Bohnen mit Reis, Salat, dazu entweder Schweinefilet, Schweinerippchen oder Schweinekoteletts –, setzt Reyes sich auf einen Holzstuhl vor sein Haus. Die zweite Hälfte seiner Tage als Restaurantbesitzer besteht darin, Gäste anzulocken. Reyes ist auf der Jagd nach Touristen. Mit ihnen verdient er Geld. Sie zahlen sechsmal so viel wie die Kubaner und bestellen kein Leitungswasser zum Essen, sondern Bier und Cola. Leider verirren sich nur selten Touristen nach San Leopoldo, das ein paar Straßenzüge nördlich von der aufpolierten Altstadt liegt.

„Yumas“, ruft plötzlich ein Nachbar. Im kubanischen Slang bedeutet Yuma eigentlich Amerikaner, aber das Wort wird mittlerweile für alle Ausländer benutzt. Tommy Reyes, der gerade noch vor sich hingedöst hat, springt auf und stellt sich den Touristen in den Weg. „Hello“, ruft er und erklärt dann in holprigem Englisch, dass hier der Eingang zu einem ganz besonderen Restaurant sei, nämlich zu seinem eigenen. Die Touristen bleiben stehen, offenbar haben sie Hunger und finden Reyes interessant. Als sie sagen, dass sie aus Polen sind, klatscht Reyes begeistert in die Hände und erzählt, wie er einmal in der Warschauer Staatsoper getanzt hat. „Wonderful.“

Wenige Minuten später führt er die Polen durch sein Museum-Haus und schließlich über eine Leiter auf die Dachterrasse zum Restaurant. Er schwirrt um sie herum, bis sie sich an einen Tisch setzen und Bohnen, Reis und Schweinerippchen für sechs Dollar bestellen, dazu Bier für 1,50 Dollar.

Als die Polen das Haus verlassen, schreckt er auf, ruft „Byeeeeee!“ und winkt, bis die Touristen um die Ecke gebogen sind. Und plötzlich läuft er hinein, klettert die Leiter hinauf zur Dachterrasse, nimmt seiner Kellnerin das Geld aus der Bauchtasche, das sie gerade von den Polen kassiert hat, rennt hinunter – im Wohnzimmer ruft er einem der Jungen für alles zu: „Komm zu Maria!“ – und zurück auf die Straße, dann weiter zum Haus von Nachbarin Maria.

„Ist noch eine Tür da?“, fragt er sie, außer Atem. Die Nachbarin nickt und schaut ein wenig traurig.

Maria ist über 70 und wohnt allein in einer leeren Vier-Zimmer-Wohnung mit fünf Meter hohen Decken, in der schon ihre Eltern aufgewachsen sind. Die Wohnung will sie auf keinen Fall verkaufen, aber sie braucht Geld, um die größten Löcher in der Decke stopfen zu können. Wer in Kuba privat Baumaterial kauft, muss viel bezahlen. Deshalb verscherbelt sie erst die Möbel und jetzt die Zimmertüren. Reyes ist einer ihrer Stammkunden. Aus der Tür will er eine Schwingtür für seine Küche machen.

Reyes drückt der Nachbarin zehn Dollar in die Hand. Und der Junge für alles, der jetzt im Haus der traurigen Nachbarin angekommen ist, beginnt die Badezimmertür aus den Angeln zu heben.

Elli Bahr

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false