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Panorama: Künstliche Muskeln

Deutsche Forscher arbeiten daran – in Zukunft könnten sie vielen Patienten helfen

Legen die Wissenschaftler in Stuttgart einen Schalter um, krümmt sich das Papier in der Schale auf dem Labortisch plötzlich. Mit diesem verblüffenden Experiment zeigen Siegmar Roth vom Max-Planck-Institut für Festkörperforschung und Ivica Kolaric von der Fraunhofer Technologie-Entwicklungsgruppe, wie ein künstlicher Muskel in Zukunft funktionieren könnte.

Das Verwenden eines ähnlichen Materials für kräftige Oberschenkelmuskeln ist eine Vision für die ferne Zukunft. Bis dahin ist es noch weit, aber die Forscher arbeiten daran. Vielleicht könnten in zehn oder zwanzig Jahren kleinere künstliche Muskeln einsatzbereit sein, die eine Kontaktlinse auf dem Auge so in Form ziehen, dass der Träger optimal sieht. Das Papier auf dem Labortisch besteht genau genommen aus zwei Schichten. Auf ein Klebeband haben die Forscher ein sogenanntes „Buckypaper“ geklebt. Legen sie nun eine kleine Spannung von ungefähr 1,5 Volt an dieses Papier an, dehnt sich das Buckypaper um rund ein Prozent aus, während das Klebeband unverändert bleibt. Weil aber beide Schichten ursprünglich gleich lang sind und fest aneinander kleben, krümmt sich das ganze Gebilde zum Klebeband hin, das durch die Spannung plötzlich zum kürzeren Teil geworden ist. Nicht viel anders funktioniert ein sogenanntes „Bimetall“ im Thermostat, das bereits seit Jahrzehnten beim Unterschreiten bestimmter Temperaturen die Heizung automatisch anstellt. Das Bimetall reagiert allerdings auf eine Temperaturänderung, die normalerweise eher träge erfolgt und sich daher kaum für einen künstlichen Muskel einsetzen lässt. Besser sind da schon Materialien wie Piezokristalle, die sich ein klein wenig ausdehnen, wenn rasch eine elektrische Spannung angelegt wird. Noch besser aber reagieren sogenannte Nanoröhrchen, die auch die Stuttgarter Forscher für ihre künstlichen Muskeln verwenden. Sie entstehen, wenn man Graphit unter bestimmten Bedingungen verdampft, haben einen Durchmesser vom Millionsten Teil eines Millimeters und sind vielleicht einen Tausendstel Millimeter lang.

In den 1990er Jahren erstmals entdeckt, bauen deutsche Chemiefirmen inzwischen bereits Anlagen, die 60 Tonnen solcher Nanoröhrchen im Jahr herstellen. Aus diesem Massenprodukt stellen die Forscher eine Art Teppich her, in dem sehr viele Nanoröhrchen miteinander verfilzt sind. Lassen sie dieses Buckypaper in einer Wasserschale schwimmen, in die sie auch Kochsalz gegeben haben, können sie eine kleine elektrische Spannung anlegen. Dabei wandern aus dem Kochsalz winzige, elektrisch geladene Teilchen, die Naturwissenschaftler als Elektronen bezeichnen, in die Nanoröhrchen. Daraufhin strecken diese sich und vergrößern ihre Länge und Dicke um jeweils ungefähr ein Prozent. Genau dieses „Quellen“ krümmt dann die Doppelschicht aus Buckypaper und Klebeband. Nimmt man die Spannung wieder weg, schrumpfen die Nanos wieder auf ihre ursprüngliche Größe.

Genauso reagiert aber auch ein normaler Muskel: Die Nervenzellen veranlassen die Muskelfasern mit Hilfe kleiner elektrischer Spannungen, sich ein wenig zu strecken oder zusammenzuziehen. Im Prinzip haben Siegmar Roth und Ivica Kolaric also mit dem Nanoröhrchen-Filzteppich einen künstlichen Muskel geschaffen. Bis dieser allerdings in der Praxis eingesetzt werden kann, müssten noch einige Hürden überwunden werden. So ermüdet ein natürlicher Muskel zwar, regeneriert sich aber bald wieder. Diese Erholung aber kennt der Nanoröhrchen-Filzteppich nicht, nach wenigen Tagen ist er verschlissen und gibt seinen Geist auf. Er taugt also nur für kurzfristige oder seltene Muskelbewegungen. Für Daueraufgaben, wie sie ein Arm- oder Beinmuskel bewältigen muss, liegt eine Anwendung dagegen noch in ferner Zukunft.

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