zum Hauptinhalt

Landwirtschaft: Am Ende der Knechtschaft

Walter Michel gehörte zum "braven Gesinde", 44 Jahre lang half er einem Schweizer Bauern auf dem Hof. Dann kamen die Maschinen – und Michel, der nicht nicht arbeiten will, ging in eine ungewöhnliche Rente.

Er steht in seinem Zimmer, draußen dunkler Morgen, Walter Michel, klein und gebeugt, im einundsiebzigsten Jahr, Schirmmütze über schütterem Grau, den Blick wie meist nach unten gesenkt, lächelt ein löchriges Gebiss frei und macht knappe Worte, weil man mehr nie verlangte von ihm: „Es ist gut hier.“

Hinter ihm an der Wand erzählen Bilder sein Leben, das im Oktober 1938 begann und hier zum dritten und wohl letzten Mal Halt macht.

Ins Kärgliche des bäuerlichen Dorfes Ringgenberg geboren, Berner Oberland, als erstes von fünf Kindern, schickte ihn sein Vater, der zur See fuhr, zum Hof eines Bauern nach Ins, Ende 1959, sich zu verdingen, hundert Kilometer weit von zu Hause. Der Bauer findet Verwendung für ihn. Weil es noch wenige Maschinen gibt zu jener Zeit.

Walter Michel bleibt in Ins. 44 Jahre lang. Als Knecht. Führt ein Körper verschleißendes Leben in strengem Rhythmus, das ihn abends früh ins Bett zwingt und morgens noch früher hinaus, um halb fünf, sechs Tage die Woche. Mit einem Horizont, der begrenzt war von der Dorfkirche am Sonntagmorgen und der Dorfkneipe am Samstagabend. Wohin er meist ging, nachdem er allwöchentlich am späten Samstagnachmittag den Lohn von der Bäuerin empfangen hatte. Im Jahr 2003 verlässt er dasselbe kleine Zimmer, in das er 1959 gezogen war. Längst hatte ihn der Bauer nur noch aus sentimentalen Gründen behalten. Auf dem Feld waren die Traktoren, im Stall die Melkmaschinen. Als der Sohn den Betrieb übernimmt, packt Walter Michel, fügsamer Charakter, still und ohne Murren alles, was er besitzt in zwei Koffer, mit 65 Jahren zu verlassen, was er nie verlassen hatte.

Der junge Bauer kauft ihm ein Ticket nach Bern, SBB, Schweizer Bundesbahnen, von dort weiter ins kleine Oeschberg, eineinhalb Stunden Fahrt ins neue Leben, der alte gibt ihm eine letzte Urkunde mit auf den Weg, „für 44 Jahre treue Dienste“ und eine Umarmung. Mit feuchten Augen. „Komm uns mal besuchen, Walter.“

Dann kam Walter Michel hierher, wo er es gut findet seitdem. Ins Dienstbotenheim Oeschberg, Zürichstraße 7, 3425 Oeschberg, BE. Das einzige Altersheim in der Schweiz und auch in Deutschland, das allein ehemaligen Knechten und Mägden eine Heimstatt gibt. Der letzten Generation von ihnen; die Höfe werden immer weniger und die wenigen haben viele Maschinen und brauchen keine Menschen mehr.

Jenen aber, die hier sind, 34 Männer und fünf Frauen, 60 Jahre alt der jüngste, 89 der älteste, möchte man das Gefühl geben, noch gebraucht zu sein. Eine letzte Stelle angetreten zu haben. Möchte ihnen ihren Stolz nicht nehmen, der nie groß war, aber immer vorhanden, weil sie etwas schafften mit ihren Händen.

Es ist zehn Uhr am Vormittag. Vorne, an der viel befahrenen Straße, die von Zürich über Land nach Bern führt und das Haupthaus des Dienstbotenheims vom Nebengebäude trennt, sitzen zwei der Bewohner auf einer Bank, Zigarette zwischen die Lippen geklemmt und den Gehstock zwischen die Beine. Sie müssen nicht mehr arbeiten hier. Das ist der Unterschied zu früher. Ein Segen, den ihnen das Alter beschert. Der zum Fluch würde, müssten sie immer dort sitzen. Aber sie dürfen ja noch etwas tun. „Die freiwillige Arbeit macht unser Heim so besonders“, spricht bedächtig Alexander Nägeli in seinem kleinen Büro, ein großer, sehniger Mann, früher Landwirt, dann 38-jährig im April 1986 als Leiter des Heims mit seiner Frau ins Dachgeschoss des herrschaftlichen Haupthauses gezogen. Seine Arbeit hier sei weiterhin noch fast zur Hälfte die eines Landwirts. Denn im Grunde ist das Dienstbotenheim nichts anderes als ein Altersheim mit angeschlossenem Bauernhof. Elf Hektar Wald gehören dazu, sechseinhalb Hektar Äcker mit Kartoffeln, Gerste, Weizen, Obstbäume, Beerenplantagen und hinter dem Haus die Ställe. Für die Hühner. Die Schweine. Die Kühe. „Für jeden Bereich haben wir hier einen Spezialisten“, lächelt Nägeli aus schmalem Gesicht.

Walter Michel ist jener für die Hühner. Jeden Morgen wie auch heute mistet er ihren Stall aus, bringt vorsichtig die frisch gelegten Eier in die Küche. Geht wieder zurück, den Kuhstall zu säubern. Nur der Schweinestall ist tabu für ihn. Dort regiert Christian Zingg, der 72 ist und seit 13 Jahren schon in Oeschberg, mit Besen und Schlauch, mit freundlichen Worten und nur selten mit harter Hand. „Ich mag halt die Schweine“, ruft er durch den Lärm, den eine Sau verursacht, weil er ihren Leib gerade mit dem Wasserstrahl abspritzt, „und die Schweine mögen mich.“ Fast 40 Jahre lang begleiteten sie sein Leben, dass er führte auf einem Hof im Jura. Ledig und ohne Kinder. Christian Zingg sagt: „Es pressiert ja nicht mit dem Heiraten.“ Das tat es bei fast niemandem hier.

Man verdiente wenig, die Arbeit war hart, der Bauer meist streng. Für mehr als einen oder zwei Knechte gewährte er keinen Platz. Eine Familie zu gründen hätte bedeutet, den Hof zu verlassen. Einen eigenen aber konnten sie sich nicht leisten. Und einfach zu einem anderen weiterzuziehen, hätte die Situation nicht verändert. Also blieben sie allein.

Vroni Staub steht nebenan im Waschhaus. Ihr Amt ist das Bügeln. Und ihre Leidenschaft, von Zeit zu Zeit, das Malen. Weil sie lieber beobachtet als redet, verewigt sie die Gesichter der Mitbewohner. Nicht ganz genau trifft sie die, aber Verena Nägeli, die Frau des Chefs, freut sich dennoch so sehr darüber, dass sie die Bilder überall aufhängt, im Waschhaus, in der Küche, im Flur, im Fernsehzimmer. Jedes ihrer Bilder zeichnet Vroni Staub mit ihrem Namen und dem der Porträtierten. „Der Herr Ribli“, „die Frau Nägeli“. Namen sind das einzige, was sie schreiben kann. Die anderen Worte sind ihr nach einem kurzen Schulaufenthalt abhanden gekommen. Als einfache Dienstmagd empfing sie nur Mündliches und das oft sehr deutlich.

„Die Menschen, die hierher kommen, sind vom Leben nicht verwöhnt worden“, sagt Alexander Nägeli, der Chef des Hauses, der vor seiner Zeit in Oeschberg auch mal ein Jugendheim leitete, auf dem Weg nun von seinem Büro zum Nebenraum, die Glocke zu läuten, die das Mittagessen ankündigt, elf Uhr. „Aber verbittert ist trotzdem keiner“, sagt er. Nur rau. Vor allem die Männer. Weil deren Leben keines war, in der wohlfeile Sitten eine große Rolle spielten.

Deswegen auch ist disziplinierend die alte Hausordnung noch in Kraft, die seit Gründung des Heimes neben der Eingangstür hängt, verfasst in altdeutscher Schrift. Unterteilt in 22 Paragrafen. „Es ist verboten, im Hause auf den Boden zu spucken.“ „Die sämtlichen Hausbewohner sollen sich befleißen, das Heim zu einer Stätte des Friedens zu machen.“ Denn das hatten auch die Geschwister Ferdinand und Elise Affolter im Sinn, als sie im Jahr 1906 das Dienstbotenheim Oeschberg gründeten, mit dem sie zuvor noch als „Gasthof Sonne“ zu einigem Wohlstand gelangt waren. Weil die „Bern-Zürich-Straße“ vorbei am Haus Hauptachse war zwischen den großen Städten. Als dann die Bahnlinie gebaut wurde und die Gäste ausblieben, entschieden sie sich, schon hochbetagt und noch immer ledig, „dem braven Gesinde“ ein Heim zu geben.

Kurz nach dem Geläut ergießt sich von draußen her ein langsamer Strom alter Menschen durch den Flur in Richtung Speisesaal. Sie kommen aus den Ställen, vom Feld, aus dem Waschhaus. Und fünf von ihnen waren heute Vormittag im Wald, Holz machen. Mit ihrem Chef, wie sie Heimleiter Nägeli nennen. Sie gehen vorbei am Fernsehzimmer, dem Büro des Chefs, dem kleinen Lift, der aus Scham so selten benutzt wird wie möglich. Vorbei auch an den drei Bänken, die den Flur entlang stehen, meist gut belegt. Die eine Art Arbeitsbarometer sind: Wer zu oft darauf gesehen wird, der muss sich den Spott der anderen gefallen lassen. Ein „fauler Siech“ zu sein beispielsweise. Die Körper der Bewohner sind zwar meist gebückt, ihre Meinung aber sagen sie geradeheraus.

Die Bänke sind auch Informationsbörse. In der kurz nach dem Frühstück morgens um sieben schon durchsickert, was es zu Mittag gibt. Was sich derjenige, der Geburtstag hat, zum Essen wünscht, wie es Sitte ist in Oeschberg. Oder, zeitlos, man sich immer wieder die Geschichte vom Hügli Hans erzählt. Der vor einem Jahr starb. Keiner lebte länger hier. 25 Jahre. Keiner wurde älter. 99. Und niemand konnte besser umgehen mit den Pferden als er. Kurz nachdem die Stute Herta gestorben war, „seine“ Stute, wie man sagte, biblische 50 Jahre alt, wollte wohl auch er nicht mehr. An einem Sonntag nach dem Mittagessen, mit Hemd und Krawatte unter dem Pulli, setzte er sich an den Kachelofen, eine zu rauchen, wie so oft, und dort fand man ihn dann, eingeschlafen, um nie wieder aufzuwachen. Erzählen sie davon auf dem Flur, dann klingt es immer ein bisschen wehmütig. So alt geworden und so ein schöner Tod.

Neben den Tellern liegen die Tabletten. Auf den Tellern die Post. Tabletten gibt es jeden Tag. Post selten. Sobald jemand sitzt, beginnt er, seine Suppe zu löffeln. Das Heimleiterpaar sitzt zusammen mit dem Personal in einem kleinen, abgeteilten Raum, getrennt vom Speisesaal durch einen offenen Türrahmen. Von dort sieht Alexander Nägeli jeden Mittag seit 23 Jahren auf seine Bewohner wie auf seine Kinder. Obwohl er selbst schon ein Jahr älter ist als die jüngsten hier. Wie immer sieht er sie schweigen beim Essen. Was hat man nicht schon versucht, sie währenddessen ein bisschen zur Konversation anzuregen. Erst vor Kurzem hat seine Frau eine kleine schriftliche Aufmunterung auf jeden Tisch gelegt. „Gespräche mit den Tischgenossen sind wichtig und sollen gepflegt werden.“ Nägeli lächelt. „Sie wollen einfach nicht reden beim Essen.“ Was er im Grunde versteht. „Früher war der Einzige bei Tisch, der gesprochen hat, der Bauer.“ Das lasse sich später wohl nicht mehr ändern. Am Ende des Mittagessens steht er auf und spricht. Für sie gewissermaßen. Ein Gebet. „Für Speis und Trank und täglich Brot, wir danken Dir o Gott.“

Danach trennen sich die Wege. Viele gehen auf ihre Zimmer. Im Flur herrscht Leere um diese Zeit. Nur Werner Zulliger sitzt auch dann meist dort, der älteste. Und Albert Schmid, der jüngste und etwas wunderliche. Der beseelt von seiner Begegnung mit Jesus erzählt. Schöner sei der als alle Menschensöhne. Werner Zulliger nickt unmerklich mit dem Kopf, der auf seinen Händen ruht, die auf seinem Stock ruhen. Aus dem Fernsehzimmer ein paar Meter weiter dringt immer wieder stoßartiges Lachen. Es stammt von Rosmarie Kuhn, die eine stabile Frau ist mit rundem Gesicht und kurzen Haaren. Keiner im Heim lacht mehr und lauter als sie. Auch nicht ihr Bruder, der kurz nach ihr hierherkam. Und nun läuft im Fernsehen gerade eine Dokumentation über Kamele. Deren Gesichtsausdruck Rosmarie Kuhn fast zum Weinen bringt vor Lachen.

Die anderen sitzen draußen vorm Haus an der Straße, rauchen und schauen und wundern sich. Wohin die ganzen Menschen in den Autos ständig unterwegs sind, von denen hier so viele vorbeikommen. Eigentlich amüsieren sie sich eher darüber. Die Straße hat Unterhaltungswert. Obwohl sie auch eine Gefahr ist. Am Ortseingang steht ein Schild: „Achtung Altersheim“. Doch die Straße ist eine lange Gerade, auf der selbst die Laster zu schnell fahren. Erst vor einiger Zeit erwischte es einen von ihnen, als er in der Dämmerung die Straße überquerte. Seitdem tragen sie bei Dunkelheit orangefarbene Leuchtwesten.

Um halb zwei, plötzlich, erwacht wieder das Leben. Einer lässt den Traktor an. Die Kühe müssen rausgeführt werden auf die Weide. Die Schweine noch mal gefüttert. Und Walter Michel, das Tagewerk am Vormittag im Grunde vollbracht, überschreitet die Grenzen seines Amtes und fährt mit in den Wald, wohin der Chef heute ein zweites Mal aufbricht.

Zum Abendessen um halb sechs sind sie zurück, „für Speis und Trank und täglich Brot, wir danken Dir o Gott“. Danach neigt sich langsam der Tag. Auch für Walter Michel. Mit seiner Leuchtweste über der blauen Arbeitsjacke geht er hinüber zum Nebengebäude, wo sein Zimmer liegt im ersten Stock.

Ein schmales Bett steht darin. Ein kleiner Tisch. Darauf sein Stolz. Ein Radio mit CD-Player und fünf CDs. Er nimmt eine davon, „Schweizer Volksmusik- und Schlagerstars“. Als die Musik ertönt, bewegt er sich ein bisschen dazu und hört schnell wieder damit auf. „Tanzen konnte ich nie so gut“, sagt er. Kurz darauf fängt er an, mitzusingen, in falscher Tonlage. „Ach wie schön ischs uff em Berg, wo im Sommer alles so schön blüht.“ Er lächelt und zieht dabei seinen Kopf ein. Wie ein Junge, der etwas angestellt hat. An der Wand Bilder. Von seinen Eltern. Von seinen zwei Schwestern. Von seinen zwei Brüdern. Von deren Hochzeiten und deren Kindern. „Es ist gut hier“, sagt er. „Hat man was zu tun.“ Im Schrank stehen die beiden Koffer, mit denen er von Ins hierherkam und von Ringgenberg nach Ins. Den alten Bauern besucht Walter Michel, treuer Charakter, jeden dritten Sonntag im Monat. Sieht in Ins, was er 44 Jahre sah. Auch schöne „Maidli“. Wie schon immer. Leider war für ihn nie eine dabei.

Vor Kurzem hatte er Geburtstag. „Das war schön.“ Morgens stand er auf und gab sich frei. Tags zuvor schon hatte er sich Pommes mit Bratwurst gewünscht und zum Dessert Schwarzwälder Kirsch mit Sahne. Beim Frühstück haben sie gesungen. „Nur für mich.“ Er freut sich auf seinen nächsten Geburtstag. Was es dann geben soll, weiß er schon. Käsefondue. Mit einem Schnaps dazu. Über das Dessert muss er sich noch Gedanken machen. Er lächelt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false