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Von der Humboldt-Uni nach Rangun. Lilian Gyi, 70 Jahre alt.

© Richard Licht

Lilian Gyi: „Die Kinder brauchen mich“

In Birma werden viele Behinderte versteckt – Lilian Gyi betreut sie.

Sie hätte sich ein sehr viel bequemeres Leben einrichten können, im goldenen Westen. Aber das ist nicht Lilian Gyis Art. Dabei weiß die Birmanin sehr gut, was Luxus ist, und sie schätzt die Genüsse dieser Welt durchaus. Aber sie hat ihr Leben anderen gewidmet, den wohl Ärmsten der Armen in ihrem an Armut so reichen Land: den behinderten Kindern. Inzwischen ist Lilian Gyi 70, aber noch immer leitet sie das Eden Centre for Disabled Children in Rangun. Das berüchtigte Gefängnis, wo auch der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi im vergangenen Jahr der Prozess gemacht wurde, ist nicht weit, hier im Ranguner Stadtteil Insein. Für viele birmanische Behinderte ist ihr Leben wie ein Gefängnis, denn noch immer verstecken viele Eltern ihre behinderten Kinder. Es gibt kaum Einrichtungen, die sich um die Kinder kümmern. Das von dem Physiotherapeuten Tha Uke gemeinsam mit Lilian Gyi gegründete Eden Centre ist eine sogenannte Nichtregierungsorganisation, die inzwischen 165 Kindern vom Baby bis zu jungen Erwachsenen und deren Eltern Unterstützung bietet. Einer Studie zufolge sind rund drei Prozent der knapp 60 Millionen Einwohner Birmas behindert. Malen, Physiotherapie, Tanzen, die Vorbereitung auf den Besuch regulärer Schulen stehen im Eden auf dem Programm; auch in dem abgeschotteten asiatischen Land ist das Zauberwort der deutschen Pädagogik für das gemeinsame Lernen von Behinderten und Nichtbehinderten angekommen: Inklusion.

Es ist zwar schon ein ganzes Weilchen her, aber zur Ausbildung war Lilian Gyi auch in Deutschland. Die kleine Person sitzt lächelnd auf dem kleinen Sofa im ersten Stock des Eden. Die noch immer dunklen Haare hat sie zurückgesteckt, eine weiße Bluse, ein zartes Goldkettchen und der orange geblümte Wickelrock nehmen die Strenge. Immer wieder führt sie einen Inhalierstift zur Nase, wie man es bei älteren Frauen in Birma öfter beobachten kann. Vier Jahre hat Lilian Gyi in Berlin Sonderpädagogik studiert, bevor sie in Birma die erste Schule für Behinderte aufbaute. Ihre Studienzeit 1966 bis 1970 war in doppelter Hinsicht eine Herausforderung: Zu Hause herrschte seit einigen Jahren das Militär, im Kalten Krieg kam sie in den Ostteil Berlins an die Humboldt-Universität. „Eigentlich wurden wir alle nach Leipzig oder Erfurt geschickt. Wir sollten nicht in den Westen gehen. Aber Sonderpädagogik gab es nur in Berlin“, lacht Lilian Gyi. Das Verbot war für sie Ansporn. Birmanen sind findige Leute. Wenn all die Verlockungen schon vor der Tür liegen, was sollte einen hindern? „Es ging nur mit einem Trick“, erinnert sich Lilian Gyi. Aber sie wusste schnell, dass sie mit Ostmark nicht viel würde anfangen können. „Wir haben unser Studiengeld in Westmark, das wir mitbekommen haben, in West-Berlin bei einer Bank auf ein Konto gebracht.“ Und dann ist sie einmal im Monat „im Westen shoppen gegangen. Am liebsten ins KaDeWe“, strahlt sie.

Noch einmal wollte sie zurückkommen an den Ort der kleinen Luxusabenteuer. Das war 2007, sie war zu Besuch in Italien. Doch dann gingen daheim die Mönche auf die Straße, die Junta ging rabiat gegen sie vor. Sie hat ihre Mitarbeiter angerufen, gefragt, wie die Lage ist. Sie haben ihr geantwortet: „Du kennst doch dein Land.“ Da, sagt sie, stand für sie fest: „Ich muss zurück. Ehe es nicht mehr geht.“ Für viele Deutsche mag es unverständlich sein, aber Lilian Gyi sagt: „Ich liebe mein Land. Und die Kinder brauchen mich doch.“

Dabei ist sie eigentlich seit dem Jahr 2000 pensioniert. Doch diese Kinder sind ihr Leben. Khin Thein Mawi Aung, die Siebenjährige mit den dichten dunklen Zöpfen, die gerade akribisch eine Vorlage grün ausmalt, oder Phla Thaw Wah. Die 15-Jährige probt nebenan mit Hingabe einen Tanz für das nächste Fest, ihr langer Rock schleift über den Boden, immer wieder verbirgt sie ihr Gesicht passend zur Musik hinter einem gelben Chiffonschal. Beide Mädchen leiden am Downsyndrom. Für Kinder wie sie haben Lilian Gyi und Tha Uke das Eden gegründet.

Beharrlich bauen sie ihr kleines Centre aus. Im Moment fehlt es an bescheidenen Mitteln. „Tha Uke hat immer so viele Ideen, aber unser Budget ist nicht so hoch“, lacht Lilian Gyi. Im Erdgeschoss haben sie gerade ein neues kleines Schmuckstück fertiggestellt, einen schwarz ausgekleideten Ruheraum. „Manche Kinder sind derart aktiv, hier können sie runterkommen. Wir werden mit leiser Musik, Farben und Gerüchen arbeiten“, erklärt Tha Uke. Ein kleines Schwimmbecken haben sie mit ausländischer Unterstützung gebaut, auch die deutsche Botschaft und die Welthungerhilfe arbeiten mit der kleinen Crew zusammen, die vier Klassen in zwei Schichten vor- und nachmittags unterrichtet. Drei Physiotherapeuten üben mit den Kindern und deren Eltern, Geduld ist gefragt. Im großen Trainingsraum trägt ein Mädchen in spitzenbesetzten Leggings mit Mühe Bälle in einem kleinen Eimer, den Kopf verdreht. Vor wenigen Monaten konnte sie nicht einmal alleine laufen. „Am Computer ist sie hervorragend“, erzählen die Betreuerinnen.

Lilian Gyi und Tha Uke versuchen, bei ihren Landsleuten für diese Kinder zu werben. Denn sie sind auf Spenden angewiesen und sie wollen den Anteil der Finanzierung aus dem eigenen Land steigern. „Vor fünf Jahren kamen fünf Prozent des Geldes von unserer eigenen Bevölkerung, heute sind es schon 20 Prozent“, sagt der umtriebige Tha Uke. Ihr Ziel ist, dass Birmanen einst die Hälfte der Finanzierung stemmen. Auch im Sozialministerium haben sie einen Mann gefunden, der sich für die Kinder einsetzt.

Ihr Erfolg ist auch ein kleiner Fluch. Immer mehr Eltern würden gern ihre Kinder im Eden betreuen lassen, aber sie stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen. Auf der anderen Straßenseite haben sie ein zweites kleines Haus, „aber da will eigentlich keiner mehr rein, alle haben Angst, dass es über ihnen zusammenbricht“.

Richard Licht[Rangun]

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