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© dpa

London: Die Stadt der langen Messer

21 Jugendliche sind in diesem Jahr bereits in London ermordet worden - 27 waren es im Vorjahr. Der Politik gelingt es nicht, der ausufernden Gewalt Herr zu werden. Viele Bewohner der betroffenen Stadtbezirke in Ostlondon überlegen inzwischen ihre Viertel zu verlassen.

Die Gegend, in die sie vertrieben wurden, riecht nach frisch gemähtem Gras, die Nachbarn grüßen, waschen ihre Autos oder schneiden Hecken. Die Sonne scheint. Sie wärmt den Panzer der Schildkröte draußen im Garten.

Drinnen im Haus sitzt Familie Celebi, Mutter, Vater und Firat, der Sohn, er steht auf und geht hinaus, bald werden wohl wieder Wolken kommen, es wird dann zu kalt sein für das Tier. Er hebt es auf und bringt es zurück ins Haus, ins Terrarium. Firat ist 21 Jahre alt, er ist der Sohn, der den Celebis geblieben. Als er davon zu erzählen beginnt, warum sie hier sind, wer sie hergetrieben hat in diese schöne Siedlung am äußersten Rand Londons, verlässt der Vater den Raum. Die Mutter weint leise. Firat Celebi, ein hübscher, sportlicher Mann mit großen, dunklen Augen, sagt: "Sie haben unser Leben zerstört."

Es war schon dunkel an jenem Novemberabend im vergangenen Jahr. Die Celebis wohnten damals noch in Stoke Newington, einem Viertel in Londons Stadtteil Hackney, und Etem, Firats 17 Jahre alter Bruder, stand dort mit Freunden an der Straße, ein paar Meter entfernt vom Elternhaus. Ein Taxi hielt vor ihnen, im Fond zwei Jungen, seid ihr von hier, fragten die. Ja, antwortete die Gruppe. Sofort zog einer der beiden eine Pistole und schoss. Acht-, neunmal. Etem sackte, von Kugeln getroffen, zusammen, seine Mutter stürzte aus dem Haus, rannte zu ihrem Sohn. Er starb in ihren Armen. Der Taxifahrer konnte die Täter beschreiben, sie waren in einem Nachbarviertel zugestiegen, sie wurden gefasst. Der ältere von ihnen war 19.

Zwei Tage nach dem Mord an Etem Celebi wird in London der nächste Teenager von Gleichaltrigen umgebracht, er wird zu Tode geprügelt. Vier Wochen später werden zwei 16-Jährige erstochen. Insgesamt 27 Jugendliche starben so 2007 in London, 21 sind es bisher in diesem Jahr. Der älteste, Nicholas Clarke, 19, wurde erschossen, dem jüngsten, Amro Elbadawi, 14, die Kehle durchgeschnitten. Der letzte starb am vergangenen Donnerstag, der prominenteste im Mai. Es war der 18 Jahre alte Schauspieler Robert Knox, gerade erst hatte er die Dreharbeiten für den neuen Harry-Potter-Film hinter sich.

Jede Gang will ein Revier - doch Reviere sind knapp

Mehr als 170 Jugendgangs, jeweils mit zehn, zwölf Mitgliedern, gibt es in London. Die meisten im Osten der Stadt, da, wo auch Hackney liegt. Das britische Innenministerium stuft sie irgendwo zwischen Freundeskreisen und organisierten Kriminellen ein. Mit Messern, Äxten und Pistolen halten sie die Stadt in Atem. Und die Ärzte. Jedes Wochenende werden im riesigen St. Thomas Hospital zerstochene Oberkörper zusammengeflickt. Einige Patienten kommen öfter, manche lagen schon dreimal auf den Operationstischen. Fast immer sind es Kinder. Sie sind Opfer oder Täter, manchmal beides, und ihre Wunden stammen meist von Kämpfen um das, was sie Respekt nennen. Es geht um Reviere. Die sind nach Postleitzahlen sortiert. Hackney hat zwölf Postcodes, aber zwanzig Gangs.

Hackney ist Londons ärmster Innenstadtbezirk. Viele Einwanderer leben hier, auch im Smalley Close Estate, den Sozialbaublöcken, in denen die Celebis ihre Wohnung hatten. Die Celebis kamen aus Nordzypern nach Großbritannien. Fünf, sechs Jungen aus den Häusern hat die Polizei als "Smalley-Gang" im Blick. Etem gehörte nicht dazu. Er spielte lieber Fußball, kurz vor seinem Tod bekam er eine Trainerlizenz.

Nach dem Mord ging die Familie für ein paar Monate nach Zypern zurück, Etem ist dort beerdigt worden. Der Vater hat zu arbeiten aufgehört, die Familie lebt von Erspartem und dem Sozialamt. Firat hat sein Psychologiestudium nach der Tat unterbrochen.

Die Stoke Newington High Street, die Hauptstraße des Viertels, ein paar hundert Meter entfernt von der Stelle, an der Etem Celebi starb, ist tagsüber ein freundlicher Ort - mit Imbissen, Gemüsehändlern und Ramschläden. Der Biomarkt ist überlaufen, die Menschen sind höflich. Zwei neue Porsche parken in der Sonne, bei einem sind die Fenster offen. Der jugendliche Fahrer sitzt gelassen in einem Café.

Auch die Polizeiwache an der Stoke Newington High Street ist sauber und hell. "London against street crime" steht am Eingang, ein Polizist steht davor. "Die Probleme", sagt er laut, weil gerade ein Einsatzwagen mit Blaulicht vom Hof rast, "fangen gleich hinter der Wache an." In Häusern wie dem Smalley Close Estate würden die Leute vieles unter sich ausmachen. "Wer uns ruft, wohnt meist noch nicht lange dort." Gerufen wird vor allem nachts.

Nachts, wenn schwache Laternen die Sozialblöcke in blasses Licht hüllen, drehen die Jungen im Viertel ihre Runden. An hohen Zäunen entlang, die die Schulen umgeben, vorbei an Kameras, die über nahezu jeder Tür wachen, sie passieren winzige Vorgärten, in denen Bullterrier hocken. Sie sind auf der Suche nach Gleichaltrigen von anderswo, nach Grenzverletzern, nach Eindringlingen.

Und wenn sie auf so jemanden stoßen, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie rasch die Kapuzen auf ihre Köpfe ziehen, den Fremden niederstechen, vielleicht nehmen sie auch noch das Handy mit. Meist schnappt die Polizei die Täter. Beim Blick in die Gerichtsakten schaut man dann in Kinderaugen. Einige von ihnen haben noch nicht einmal begonnen, sich zu rasieren. Ihre Eltern stammen aus Afrika, Asien oder der weißen Unterschicht.

Tagsüber spielen die jungen Männer mit den Kapuzenpullovern mit ihren Computern oder sitzen mit einem Joint auf dem Spielplatz. Gelegentlich handeln sie mit Drogen. Sie haben Zeit, viele sind aus der Schule geflogen und ohne Arbeit. Die ringsum plakatierten Fahndungsaufrufe beachten sie nicht. Umgerechnet 50.000 Euro bietet die Polizei gerade demjenigen, der die Mörder eines 17- Jährigen identifiziert, die von einer Überwachungskamera gefilmt worden sind. Rund um die Upper Clapton Road in Hackneys Osten ist dieses Plakat überall zu sehen. "Murder Mile" wird die Straße genannt - Mordmeile. Fahndungsplakate werden hier monatlich ausgewechselt.

Bei Haftantritt haben die meisten Täter aus dem Gangmilieu die Lese- und Rechenfähigkeit von Zehnjährigen. Fast die Hälfte von ihnen war bei Jugendämtern in Obhut. Oft ist nur noch die Mutter da. Mehr als 1,3 Millionen britische Kinder haben Eltern mit einem Alkoholproblem, jeder zehnte Schüler hat psychische Störungen. Drei Millionen Kinder - 30 Prozent des britischen Nachwuchses - leben in Armut. Nirgendwo in der Europäischen Union seien so viele Frauen unter 18 Jahren schwanger, in keinem westeuropäischen Land gebe es so wenige intakte Familien, sagen Sozialwissenschaftler.

Und noch eine Statistik: Die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Überfalls zu werden, ist in Großbritannien die höchste in der Europäischen Union, teilt das Londoner "Centre for Crime and Justice Studies" mit. Die britische Innenministerin Jacqui Smith gab Anfang des Jahres zu, dass sie nachts auch Straßen besserer Wohnviertel meide.

Wie groß die Angst vor den Gangs ist, zeigt nicht nur Familie Celebis Wegzug aus Hackney. Auch Etems Freunde, die jenen Novemberabend überlebten, wohnen nicht mehr hier. Wo sie jetzt leben, sagen sie nicht. Sie sind in Wohnungen des Zeugenschutzprogramms untergebracht, die einst für IRA-Aussteiger gedacht waren. Einer Studie zufolge sollen sich 1,5 Millionen von Jugendbanden terrorisiert fühlende Briten mit Umzugsgedanken tragen.

Harte Strafen. So hart, dass die UN eine Rüge aussprach

Daran konnte auch die Härte der britischen Staatsmacht nichts ändern. Es gibt flächendeckende Kameraüberwachung, strenge Richter, Zehnjährige sind strafmündig. Die Zahl der jugendlichen Häftlinge ist groß, mehr als 6500 sitzen hinter Gittern, die UN hatten Großbritannien 2003 sogar für seine harten Strafen gerügt. Dass das alles nichts geholfen hat, sagt selbst die britische Regierung. Das kürzlich veröffentlichte Ergebnis einer von ihr in Auftrag gegebenen Untersuchung war eindeutig.

Vor ein paar Wochen nun machte Premierminister Gordon Brown die Bekämpfung der Jugendgewalt zur Chefsache: Seit Juni droht jedem Gefängnis, sobald er 16 Jahre alt ist und mit einem Messer erwischt wird. Diese Leute sollten auch auf die Notfallstationen der Krankenhäuser gebracht werden, um dort einen Blick auf grausam zugerichtete Opfer von Messerstechereien werfen zu können, sagte Innenministerin Smith am vorvergangenen Sonntag. Stunden später korrigierte die Regierung dies. Es sei nicht geplant, dass Messerträger Verbrechensopfer treffen sollen. Stattdessen sollen sie mit deren Ärzten reden. Das klingt alles nach großer Hilflosigkeit.

"Es wird viel bestraft, aber zu wenig vorgebeugt", sagt Harry Fletcher, ein kleiner Mann mit rundem Bauch und wachem Blick. Der 58-Jährige weiß viel über die Revierkämpfe der Jungs mit den Kapuzenpullovern. Fletcher wohnt in Hackney und ist Sprecher der Gewerkschaft der Bewährungshelfer. Eines seiner zwei privaten Telefone klingelt immer, im Büro stellt seine Sekretärin den ganzen Tag über Anrufe durch: Politiker suchen Rat, wenn wieder jemand getötet worden ist. Auch die konservativen unter ihnen wollen nun wissen, ob höhere Sozialausgaben vielleicht doch besser sind als härtere Strafen.

Fletcher weiß auch einiges über den Revierkampf an jenem Novemberabend vorm Smalley Close Estate: Einer der damals mit dem Leben davongekommenen Jungen sei der Polizei bekannt gewesen, er gehöre zum Umfeld der "Smalley-Gang". Die beiden Angreifer müssen ihn nicht gekannt haben, im Kampf um Reviere ist es bisher oft genug egal gewesen, ob die Pistolenschüsse und Messerstiche Mitgliedern konkurrierender Banden galten oder Menschen, die einfach nur in deren Postleitzahlbereich wohnten. Und in diesem Fall ging es wohl ohnehin nur darum, eine Botschaft auszusenden, an die "Smalley-Gang": Wir - die Angreifer kamen aus dem benachbarten Stamford Hill - sind härter. "Viele Gangmitglieder denken, sie sind in einem Mafiafilm", sagt Fletcher.

Eltern sind überfordert, Jugendklubs werden geschlossen. Viele Jungen werden zu Hause geschlagen, im besten Fall interessiert sich niemand für sie. Allenfalls die örtliche Gang, die Abenteuer bietet - und Schutz. "Wer aus der Grundschule rauskommt, braucht eine Gang als Lebensversicherung", sagt Fletcher. Und während im noblen Kensington, Westlondon, Familien 8000 Euro im Monat an Wachmänner zahlen, um ihre Häuser schützen zu lassen, bewaffnen sich Jugendliche in Hackney selbst.

Im September beginnt die Verhandlung gegen Etem Celebis Mörder. Das Gefängnis wird er vermutlich erst 2030 verlassen, mit Anfang 40. Firat, Etems Bruder, sagt: "Wenn Eltern versagen, muss sich die Gesellschaft um die Kinder kümmern." Draußen am Stadtrand, als die Sonne verschwindet. Am selben Abend wird in Whitechapel, Ostlondon, ein 17-Jähriger überfallen, er überlebt schwer verletzt. Geraubt haben die Täter nichts. Bist du von hier, sollen sie gefragt haben. Und stachen zu.

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