zum Hauptinhalt
The Shard. Die „Glasscherbe“ markiert den Übergang Londons von einer selbstbewusst altmodischen und liebenswürdig exzentrischen Stadt zu einer Metropole, die im globalen Wettbewerb anderen nacheifern will.

© AFP

London: The Shard - er sticht ins Auge

In London steht das höchste Haus Europas kurz vor der Vollendung – Renzo Pianos Werk ist umstritten. Verliert London seinen Charme?

Immer mehr Menschen sind neugierig. Wie sehen London und der Rest der Welt, von Europas höchstem Gebäude aus, aus? Normalbürger müssen bis nächsten Februar warten. Dann werden in Londons neuestem und höchstem Hochhaus die „Aussichtsgalerien“ in den Stockwerken 68 bis 72 für die Öffentlichkeit geöffnet. Man könnte sich auch ein Luxusappartement in den Stockwerken 53 bis 65 kaufen – die Preise sind schwindelerregend. Zwischen 30 und 50 Millionen Pfund kostet das.

Bradley Garrett und seine „Urban Explorers“ wollten nicht warten. Jüngst kletterten sie über den schlecht bewachten Bauzaun an der London Bridge Station, dann 76 Stockwerke hoch und über Eisentreppen und Stahlträger noch ein bisschen höher Richtung der 309,6 Meter hohen Spitze des „Shard“, wie der Wolkenkratzer getauft wurde: „Die Glasscherbe“.

„Wir konnten nicht mehr sehen, was sich auf der Straße bewegt – keine Busse, keine Autos, nur Lichtreihen. Es sah aus wie eine gigantische elektronische Schaltplatine“, berichtete Garrett, dessen Gruppe „urban explorers“ die Bilder auf ihrem Blog placehacking.co.uk veröffentlichte. Etwas pikiert meldete sich dann Kranführer John Young zu Wort und stellte der „Times“ Fotos von seinem Arbeitsplatz 318 Meter hoch zur Verfügung. Schließlich kletterte er als einer von 18 Kranführern von Berufs wegen regelmäßig in die zuletzt neun Meter über der Turmspitze gelegene Krankabine – ein Weg zum Arbeitsplatz, der sogar dem Profi Schwindel machte. „Wenn man hochklettert, spürt man die Schmetterlinge, es ist das Adrenalin. Man muss es respektieren, denn wenn man leichtsinnig wird, gibt es Unfälle“, sagte er der Zeitung.

Bei gutem Wetter habe er aus seiner Kabine gleichzeitig die Flugzeuge von den drei Londoner Großflughäfen Heathrow, Gatwick und Stansted aufsteigen sehen, erzählt er. Nun wird sein Kran wieder heruntergefahren. Anfang Mai ist der Bau fertig. Wenn die Queen auf der Flussparade zum „Diamantjubiläum“ am 3. Juni auf ihrer neuen Barke „Gloriana“ die Themse hinunter schippert, kann sie den Turm auf der Südseite der Themse, gegenüber der City beim Bahnhof London Bridge Station, aus nächster Nähe sehen.

Was wird die denken? Der italienische Architekt Renzo Piano ließ sich das elegante Gebäude im Jahre 2000 einfallen und war von Schiffsmasten und Londoner Kirchtürmen inspiriert. Die Reputation des Architekten sollte es leichter machen, die Erlaubnis für das megalomanische Projekt zu bekommen. Die Hoffnungen waren eigentlich gering, denn Prinz Charles, der jede Höhenkonkurrenz für die geliebte Londoner Skyline mit der Sankt Paul’s Kathedrale und die von den Kinks besungenen „Waterloo Sunsets“ ablehnte, kämpfte damals gegen weitere Hochhausbauten und hatte die Unterstützung der Denkmalschutzbehörde „English Heritage“. Bis 1963 durfte kein Gebäude in London höher als die 111 Meter hohe St. Paul’s Kathedrale sein. Aber der 72-jährige Grundstücksbesitzer Irvine Sellar, der als Hosenverkäufer in der Carnaby Street anfing, setzte sich durch – beflügelt vom Immobilienboom, einer Lockerung der Planungsbestimmungen und der Geldgier der Stadtverwaltung. Je höher das Haus, desto höher die Bausteuer. Als 2008 in der Finanzkrise das Aus für das Projekt drohte, kam die Königsfamilie von Qatar zu Hilfe, der bereits halb London zu gehören scheint.

Nun ist der Shard für viele der Gipfelpunkt des Londoner Wegs von der altmodischen, liebenswerten, zurückgebliebenen, aber exzentrisch-selbstbewussten Metropole zu einer Weltstadt, die eifersüchtig im globalen Wettbewerb mitmischen will. Nicht alle sind beeindruckt: „Architektonisches Blendwerk“ schimpfte Architekt Ken Shuttleworth, Chefdesigner des Stararchitekten Norman Foster, Architekt des Londoner „Gherkin“ – wobei Fosters und Partners selbst die Pläne für das 320 Meter hohe Pariser Doppelhochhaus „Hermitage Plaza“ am Pont de Neuilly gezeichnet haben, das den Shard 2016 als neuer Rekordhalter ablösen soll.

„Wir haben Shakespeare, wozu brauchen wir Wolkenkratzer“, fragte der Kulturkritiker Christopher Caldwell in der „Financial Times“. „Ein Stachel im Auge“, schrieb der Architekturkritiker Rowan Moore im „Londoner Evening Standard“ und bezeichnete es als Monument für Londons „anarchisches Planungssystem“, wo es keinen Gesamtplan gibt und einfach die schnellsten gewinnen.

Oder ist der „Shard“ ein Zeichen von Londons Niedergang? Der Volkswirtschaftler Andrew Lawrence entwickelte 1999 seinen „Skyscraper Index“ und behauptete, Rekord-Wolkenkratzer würden immer dann und dort eingeweiht, wo der Wirtschaftsboom kippt und der wirtschaftliche Niedergang bevorsteht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false