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Loveparade-Tragödie: Duisburg - dunkler Schatten Heimat

Duisburg, Stadt der Kumpel, jeder war Duisburger. Immer ging es zuerst um den Menschen. Hat sich etwas geändert? Hatice Akyün über die Stadt ihrer Jugend und die Katastrophe vom Samstag.

Wenn ich an Heimat denke, habe ich ein ganz bestimmtes Bild im Kopf: Es ist die A 42, die durch Duisburg führt. An einer ganz bestimmten Stelle muss ich immer anhalten oder zumindest das Tempo drosseln. Gestochen scharf heben sich die Umrisse der Hochöfen vom Himmel ab. Auch wenn ich zum millionsten Mal dort vorbeifahre, fasziniert es mich. Das ist für mich Heimat. Nirgends wird man Herz so berührt wie an jener Stelle an der A 42 in Duisburg.

Meine Freunde verstehen nicht, was ich meine, wenn ich ihnen von Ruhrpott-Romantik vorschwärme, vom satten Grün des Duisburger Waldes, der Sechs-Seen-Platte, den Hochöfen, die über der Stadt thronen, die hohen Schlote, deren Spitzen in den Himmel stechen. Sie rümpfen angewidert die Nase, obwohl sie noch nie dort waren. Sie denken an stinkende Abgase und schmucklose Reihenhäuser im schmutzigen Einheitsgrau. Bilder, so erschreckend, dunkel und grau wie jener Tunnel in Duisburg, der seit dem Wochenende in einer Endlosschleife in den Medien gezeigt wird, und der nun unauslöschbar mit dem Tod von 20 Menschen in Verbindung steht.

Duisburg ist eine Stadt, die durch Wallraff-Enthüllungen und die düsteren Geschichten in den Schimanski-Tatorten noch nie im guten Licht stand. Eine Malocherstadt, die stets mit hoher Arbeitslosenzahl, kriminellen Ausländern, Ghettoisierung in Verbindung gebracht wird. Verwahrlost, verrottet und zugemüllt. Wenn es darum geht, eine perspektivlose und heruntergekommene Stadt zu zeigen, wird sie in Filmen, Dokumentationen und Reportagen häufig als Kulisse verwendet.

Dabei war Duisburg mit seiner Stahlindustrie einst eine blühende Stadt. War in der Nachkriegszeit die Lokomotive des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders, stieg auf zu einer der reichsten deutschen Städte. Die Einwohnerzahl schnellte auf über 600 000 hoch.

Das alles hat sich heute gründlich geändert. Der Strukturwandel an Rhein und Ruhr hat die Stadt zu einem der Armenhäuser im deutschen Westen werden lassen. Duisburg ist mit 2,4 Milliarden Euro verschuldet, die Arbeitslosenquote liegt über zwölf Prozent. Und die Zahl der Einwohner schrumpft und schrumpft, 490 000 sind es noch. Gewandelt haben sich auch die politischen Verhältnisse. Galt Duisburg jahrzehntelang als uneinnehmbare Hochburg der Sozialdemokratie, so sitzt heute ein Christdemokrat im Rathaus – in einem Bündnis mit den Grünen. Nichts ist in Duisburg mehr wie früher. Einzig der Hafen – der größte Binnenhafen der Welt – macht noch gute Geschäfte. Ansonsten aber gilt die Stadt als Inbegriff westdeutscher Tristesse.

Und doch ist Duisburg wunderschön. Wer schlecht von der Stadt denkt, kennt sie einfach nicht.

Wenn ich Duisburg mit einer Frau vergleichen dürfte, wäre sie jener burschikose Kumpeltyp, mit dem man die ganze Nacht am Tresen hockt, endlos Bier aus der Flasche trinkt und über das Leben und die Liebe philosophiert. Diese Frau würde man nicht heiraten wollen, sie würde nie die Liebe des Lebens werden, sie ist unspektakulär, nicht hübsch auf den ersten Blick, aber irgendwie anziehend auf den zweiten, versprüht sie eine urtümliche Normalität, wie andere billig riechendes Parfüm.

Duisburg ist betörend, ohne eine Sexbombe zu sein, und weil die Stadt erst gar nicht versucht, ihre vielen Makel zu verhüllen, weil sie keine Allüren hat, weil ihr bizarrer Anblick irritierend wirkt.

Für einen kurzen Moment gehe ich in die Zeit vor der Loveparade zurück, in die Zeit vor den 20 Toten. Dann denke ich an unser Haus in Marxloh, in dem ich aufgewachsen bin. Dort, in der Zechensiedlung, in der die Bergmänner der Kohleschächte mit ihren Familien wohnten, in einer Zeit, als es noch keine Türken und Deutschen gab. Migranten sowieso nicht. Wir waren Arbeiterkinder, Bergmannstöchter und -söhne. Unser Nachbar hieß Jupp, arbeitete mit meinem Vater im Schacht Walsum und sagte zu ihm: „Weisse, Rafet, jetzt bisse nen Kumpel, jetzt bisse eina von uns.“

Nirgends steht man so zueinander wie unter Tage. Weil man sich auf den anderen verlassen können muss, weil es egal ist, welche Sprache man spricht, weil es um Vertrauen geht, weil es nur um den Menschen geht. Und so gab es in Duisburg auch keinen Hans oder Ali. Sondern nur Kumpel. So einfach war das. Jeder war Duisburger, egal, woher er gekommen war, woran er glaubte und was er aß und trank.

Dieser Menschenschlag macht Duisburg für mich bis heute besonders. Die Duisburger, die dir so unverblümt und direkt die Wahrheit ins Gesicht schleudern, dass man oftmals verwirrt zurückbleibt. „Butter bei die Fische“ ist wahrscheinlich die erste deutsche Redewendung, die ich als Kind kennengelernt habe.

Denke ich an Duisburg, denke ich an meine Kindheit. Daran, wie wir nach der Schule zu Peter Pomms Bude gingen, Pommes rot-weiß aßen, genau wie Tatort-Kommissar Horst Schimanski. Ich habe den Geruch von verbrannter Kohle in der Nase, denke an unseren Kohleofen, auf den mein Vater jeden Abend einen Topf Milch stellte, die wir morgens, bevor wir zur Schule gingen, heiß tranken. Und daran, wie meine Geschwister und ich uns im Winter, wenn wir genug im Schnee gespielt hatten, vor den Ofen setzten, unsere Füße und Hände an den offenen Flammen wärmten und die Hitze auf unseren glühenden Wangen genossen.

Die Einzige in unserer Familie, die an Duisburg verzweifelte, war meine Mutter. In den 70er Jahren war es für türkische Mütter schwierig, „ordentliches“ Gemüse zu finden. Wie sollte sie uns ernähren? Bald würden ihre armen Kinder so blass, blond und farblos aussehen wie die der deutschen Nachbarn. Es gab weder Auberginen noch wohlschmeckende Tomaten, Paprika, Zucchini oder Bohnen. Und so musste sie sich etwas einfallen lassen. In kürzester Zeit verwandelte sie den Rosengarten unseres Vormieters in ein anatolisches Gemüsefeld. Sie rupfte und zupfte, grub den Boden um, pflanzte Setzlinge und streute Samen. Und schon wenige Monate später konnte sie endlich wieder die vielen türkischen Köstlichkeiten zubereiten.

Seit dem Wochenende allerdings hat meine Liebe zu Duisburg einen dunklen Schatten bekommen. Meine Gewissheit, dass es hier immer und vor allem um die Menschen geht, kann keine Gewissheit mehr sein. Das menschliche Gesicht meiner Stadt sieht auf einmal ganz anders aus.

Hatice Akyün ist Journalistin und Buchautorin. Sie ist in Duisburg aufgewachsen.

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