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Kampf der Kulturen: Im Istanbuler Stadtteil Tophane wurde eine Kunstgalerie überfallen - von Anwohnern, die sich von der lokalen Schickeria gestört fühlen.

© dpa

Update

Massenschlägerei: In Istanbul krachen Welten aufeinander

Im Istanbuler Stadtteil Tophane wehren sich alteingesessene Einwohner gegen die zugezogene Schickeria - mit durchaus handfesten Argumenten. Nach einer Massenschlägerei ist die Aufregung in der Türkei jetzt groß.

In den einsturzgefährdeten Häusern des einst bürgerlichen, aber längst heruntergekommenen Viertels im Istanbuler Bezirk Beyoglu leben Lumpensammler, Lastenträger und Arbeitslose – vorwiegend Roma und Kurden, aber auch alteingesessene Juden, Armenier und Griechen. Nachts setzte früher kein Außenseiter einen Fuß in das Viertel, doch das hat sich in jüngster Zeit geändert. Das hügelan gelegene Amüsierviertel von Beyoglu mit seinen hunderten Bars, Restaurants und Musikclubs wächst in alle Richtungen, auch hinab zum Bosporus und nach Tophane hinein, wo neuerdings serienweise schicke Etablissements in sanierten Altbauten eröffnet werden. In den plötzlich modisch gewordenen Altstadtgassen treffen nun konservative Kurden und kemalistische Künstler aufeinander – und da kann es schon mal knallen.

So geschah es eines Abends in dieser Woche, als mehrere Galerien in Tophane zugleich Vernissagen feierten. Weil in den Galerien nicht geraucht werden darf und die Abende in Istanbul noch immer lau sind, versammelten sich die Gäste mit ihren Drinks unter freiem Himmel in den engen Gassen. Kurz nach neun Uhr abends klirrten plötzlich Glasscheiben, eine Gruppe von Anwohnern ging auf die Feiernden los, die sich panisch in die Galerien flüchteten und die Rolläden herunterließen, bis die Einsatzkräfte der Polizei anrückten. Fünf Verletzte, sieben Festnahmen, mehrere zertrümmerte Fensterscheiben lautete die vorläufige Bilanz – und ein weiteres Opfer gab es zu beklagen: den gesellschaftlichen Frieden.

Die Empörung in der bürgerlichen Presse war anschließend groß. "Barbaren in Istanbul", titelte eine Zeitung, "Plebs überfällt Ausstellung" eine andere. Gegen den Alkoholkonsum des Vernissage-Publikums habe sich der Angriff gerichtet, so lautete der Konsens der Berichterstattung. Die Angreifer hätten "Allahu akbar" (Gott ist groß) gerufen, erzählten Augenzeugen. Auf Twitter flogen die ganze Nacht lang besorgte Nachrichten zwischen Nachtschwärmern hin und her, die das Ende der säkulären Republik und des Alkoholausschankes gekommen sahen. "Dieser Angriff ist mit Ungebildetheit nicht mehr zu erklären", proklamierte der Maler Bedri Baykam – der allerdings selbst nicht dabei gewesen war - von den Stufen der Polizeiwache herab, auf der die Beteiligten vernommen wurden.

In Tophane wurde der Fall anders gesehen. Die Anwohner hätten sich schon x-Mal bei der Stadtverwaltung über die lärmenden Freiluft-Parties beschwert, die neuerdings von der Schickeria in ihren Gassen gefeiert würden, erklärten acht örtliche Vereine aus Tophane in einer gemeinsamen Stellungnahme. Bei der Schlägerei sei es keineswegs um Alkohol gegangen, sondern um eine Streiterei zwischen Party-Gästen und einer Anwohnerin um das Wegerecht auf dem Bürgersteig, sagte ihr Sprecher Hüseyin Dormen, der Vorsitzende eines Nachbarschaftsvereins von Zuwanderern aus dem kurdischen Bitlis. Die Frau habe die Feiernden aufgefordert, den Weg freizumachen, und sei von diesen angepöbelt worden, woraufhin ihre Nachbarn eingegriffen hätten und eine Massenschlägerei ausgebrochen sei.

Die Stadtviertel-Zeitung "Tophane Haber" beklagt schon seit Monaten den radikalen Wandel, dem das Viertel durch den Zuzug von Bars, Aparthotels und Restaurants unterworfen ist. "Das Geschrei der Betrunkenen und die lärmende Musik in der Nacht belästigen die ansässigen Familien zutiefst", berichtete das Blatt erst kürzlich wieder. Die Anwohner seien vom "Sittenverfall" in ihrem Stadtviertel aufgebracht. Tophane werde nun einmal traditionell von konservativen Familien bewohnt, sagte auch Hüseyin Dormen vom Bitlis-Verein. "Wir mischen uns nicht in den Lebensstil anderer ein, doch wir möchten auch von anderen nicht in unserem Lebensstil gestört werden."

Der türkische Kulturminister Ertugrul Günay rief bei einem Ortstermin in der verwüsteten Gasse am Donnerstag zur gegenseitigen Toleranz und Achtung auf. "Wer hier Geschäfte eröffnet, sollte die Anwohner respektieren, und die Anwohner sollten die Geschäftsleute achten", sagte der Minister. "Istanbul nennt sich derzeit Kulturhauptstadt von Europa – da muss so etwas wirklich nicht sein."

Einen Anfang mit dem gegenseitigen Verständnis machte Kaan Simsekalp, einer der verletzten Galeriebesucher. "Da geht es nicht um Alkohol, da geht es um wirtschaftliche Verhältnisse", sagte Simsekalp vor der Presse. Die armen Bewohner des Viertels würden durch den Zuzug betuchter Galerien und Geschäfte verdrängt, ihre Mieten seien bereits um 200 Prozent gestiegen – "sie wissen, dass sie ihr Zuhause verlieren werden". Trotz seines blauen Auges könne er die Angreifer deshalb nicht vollständig verurteilen.

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