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In Decken gehüllt warten Bewohner der zerstörten Stadt Ishinomaki auf Hilfe.

© dpa

Mentalität: Der stille Japaner

Warum die Menschen in der Katastrophe die Ruhe bewahren. Ein Interview mit Verena Blechinger-Talcott, Professorin für Japanologie an der Freien Universität Berlin.

Es gibt in Japan bisher keine Anzeichen kollektiver Panik. Gehen Japaner anders mit Krisen um als Europäer?

Grundsätzlich sind Japaner auf Naturkatastrophen gut vorbereitet, soweit es geht. Sie wissen, dass es diese immer wieder geben wird. Sie stellen sich darauf ein. In der Geschichte hat es immer wieder katastrophale Erdbeben mit Feuersbrünsten und weitreichenden Zerstörungen gegeben. Auch die diesmal vom Erdbeben und dem Tsunami betroffenen Gebiete in der Sanriku-Region im Nordosten Japans sind zuletzt in den 1930er Jahren durch hohe Tsunamis verwüstet worden. Alte Menschen können sich an frühere Naturkatastrophen und auch die massiven Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg, vor allem auch in Sendai, gut erinnern und geben diese Erinnerung weiter. Man stellt sich in Japan darauf ein, dass Katastrophen kommen können, man ist grundsätzlich darauf vorbereitet. Dennoch fällt diese Katastrophe aus dem Rahmen, da die Kombination aus Erdbeben, Tsunami und Atomunfall das Vorstellungsvermögen und auch die Möglichkeiten von Planspielen übersteigt.

Sind Japaner vom Temperament her ruhiger?

Das kann man so pauschal nicht sagen. Die Menschen in Japan wissen, wie sie sich im Krisenfall verhalten sollen. Es gibt regelmäßige Katastrophenübungen, auch ich habe während meines sechsjährigen Aufenthalts in Japan einmal im Jahr an einer solchen Übung teilgenommen. Das ist alles genau geplant und die Evakuierungen haben auch diesmal in den großen Städten gut funktioniert. Vor allem aber sind es Japaner gewohnt, gemeinsam etwas in größeren Gruppen zu unternehmen. Sie sind insofern disziplinierter und der Einzelne ordnet sich den Gegebenheiten unter, wenn sich diese nicht ändern lassen. Japaner bleiben in einem Notfall ruhig und gehen pragmatisch mit der Situation um, die in diesem Moment nicht zu ändern ist. Das heißt aber nicht, dass es in Japan keine Panik geben könnte. So gab es etwa nach den Giftgasanschlägen auf die Tokioter U-Bahn im Jahr 1995 durchaus Panik unter den Einwohnern.

Verena Blechinger-Talcott.
Verena Blechinger-Talcott.

© FU Berlin

Bisher gibt es keine Anzeichen.

Die Nation ist still geworden. Es ist ein Schock, den die Bilder von der großen Zerstörung bei den Japanern auslösen. Die Menschen warten, was passiert. Die Unsicherheit ist sehr groß. Es herrscht große Sorge. Viele haben Verwandte in den am stärksten betroffenen Regionen. Es gibt bislang vereinzelt Hamsterkäufe und Fluchttendenzen, die aber ruhig abzulaufen scheinen. Sollte sich die Lage in den Kraftwerken verschlechtern und Tokio direkt betroffen sein, kann sich dies sehr schnell ändern.

Warum werden trotz der Erfahrung von Hiroshima und Nagasaki Atomkraftwerke gebaut?

Die Japaner trennen das völlig voneinander. Sie haben einerseits die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki erlebt und halten gleichzeitig an der Atomkraft als zentralem Energieträger fest. Es gibt in Japan keine breite Debatte über die Gefahren der Atomkraft, wie wir sie aus Deutschland kennen. Bisher gab es vor allem lokale Proteste gegen den Bau neuer Atomanlagen, ebenso ist die Stimmung der Bevölkerung im Umkreis der bestehenden Kraftwerke durchaus kritisch, und das Vertrauen in die Betreibergesellschaften von Kernkraftwerken ist nicht besonders hoch. Dies hat aber bisher nicht zu einer breiten nationalen Debatte geführt. Die zivile Nutzung der Atomkraft wird nicht emotional mit der Kriegserfahrung verknüpft. Ich habe mich immer gewundert, dass diese Verbindung nicht vorgenommen wird. Es könnte aber sein, dass sich das jetzt ändert.

Das Gespräch führte Andreas Oswald.

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