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Panorama: Michelle: Aufrichtige Hingabe

Ist es ihre Stimme? Ihre Ausstrahlung?

Ist es ihre Stimme? Ihre Ausstrahlung? Ihre Ehrlichkeit? Erst nach Michelles Sieg in der deutschen Vorausscheidung zum Schlager-Grand-Prix erfuhr die Öffentlichkeit, wen die Deutschen als Vertreter nach Kopenhagen schicken.

"Meine Kindheit war die Hölle", sagt Tanja Hewer, wie Michelle mit bürgerlichem Namen heißt. Zu ihren Eltern will sie keinen Kontakt mehr, obwohl beide heute schwer krank sind, berichtet "Bild". Zu tief sitzen die Verletzungen. "Es sei dahingestellt, ob es so, wie es in "Bild" steht, auch wirklich war", schränkt Uwe Kanthak, seit 1992 Manager von Michelle, zwar ein. Aber sicher ist, dass Kindheit und Jugend nur wenig mit der Süßlichkeit ihrer Lieder gemein haben. Tanja kam am 15. Februar 1972 in Villingen zur Welt. In dem idyllischen Dorf im Schwarzwald wuchs sie mit zwei Geschwistern auf, der Vater arbeitete als Lastwagenfahrer und war nur selten zu Hause. Die Zeit zwischen den Wiedersehen hätten die Eltern fürs Fremdgehen und Trinken genutzt, erzählt sie. Als eines Tages der Vater früher nach Hause kommt, befindet sich einer der Liebhaber seiner Frau noch in der Wohnung. Der Vater prügelt, bis das Blut fließt, hinterher sah es aus "wie auf einem Schlachthof". Immer wenn der Vater ausrastet, verstecken sich die Kinder weinend unter der Bettdecke. Als die Ehe schließlich geschieden wird, ist Tanja sechs Jahre alt.

Auch danach sei sie ständig mit dem Alkoholismus und der Promiskuität der Mutter konfrontiert gewesen. Man wohnte über einer Kneipe, die für die Mutter bald zum zweiten Zuhause geworden sei. Regelmäßig hätte sie fremde Männer mit in die Wohnung gebracht, während der Haushalt verwahrloste. Mit zehn Jahren landete Tanja bei einer Pflegefamilie. Mit ihr sind es 13 Kinder - die Erziehung wird mit dem Rohrstock betrieben. Wie so häufig wendet sich auch bei ihr die angestaute Aggression gegen den eigenen Körper. Mit 14 hat sie einen Darmverschluss und muss notoperiert werden. Die Ärzte sagen später, die Krankheit sei durch psychisches Leiden bedingt. Und die Musik? Ist die heile Welt des Schlagers ein Ausgleich für eine bittere Realität? "Da sie die Texte nicht selbst schreibt, kann das nicht der Fall sein", entgegnet Manager Kanthak. Und dennoch scheint es, als habe Tanja Hewer sich deswegen dem Schlager verschrieben, weil das wirkliche Leben die kindlichen Sehnsüchte nicht erfüllte.

Auch nachdem sie auf eigenen Füßen steht, setzt sich bei den Eltern Erlerntes fort. Durch ständige Umzüge haben Tanjas Schulleistungen gelitten, sie hat Konzentrationsschwierigkeiten. Ihre Lehre als Einzelhandelskauffrau bricht sie mit 17 Jahren ab. Ebenso unstet sind ihre Beziehungen zu Männern. Ihr Liebesleben gilt nicht gerade als idealtypisch für die biedere Schlagerszene. Tanja Hewer, die in ihrer Kindheit zumeist ohne Vater auskommen musste, fühlt sich seit ihrer Jugend zu älteren Männern hingezogen. Stärke und Ausdauer, die sich bei wirklichen Gefühlen nicht einstellen wollen, entwickelt sie dagegen bei der Hingabe zum Schlager, der musikalischen Karikatur von Gefühlen. Dieses Klischee der Harmonie schlechthin wird von ihr mit solcher Intensität interpretiert, dass sie bald schon Aufmerksamkeit erregt. Uwe Kanthak, der auch die Geschäfte von Cindy & Bert und früher von Rex Gildo führte, nimmt sich ihrer an.

Die Texte stammen von der Schlagerpoetin Irma Holder, die auch bei Udo Jürgens, Howard Carpendale oder Roy Black für die Romantik zuständig war. Als Komponist ist Jean Frankfurter seit der ersten Platte von 1993 mit von der Partie. Auf sein Konto gehen Titel von Costa Cordales, Patrick Lindner oder den Flippers: Hinter der "Vertreterin der neuen Schlagergeneration", so Kanthak über Michelle, stehen die Macher der alten. In fünf Jahren führen sie die gescheiterte Einzelhandelskauffrau auf die Gipfel der Schlagerlandschaft. Mehrere Male landet sie auf Platz eins bei der ZDF-Hitparade, der Deutschen Schlagerparade oder bei "Die Goldene Eins". 1999 erhielt sie den Echo und die Goldene Stimmgabel als erfolgreichste deutsche Schlagersängerin. Aber Tanja Hewer singt nicht nur Schlager, sie lebt sie: 1995 verliebt sie sich in Albert Oberloher von der Gruppe "Wind", die Deutschland dreimal beim Grand Prix vertraten. Nach einem Jahr kam Tochter Celine, nach einem weiteren die Trennung. Kurze Zeit später folgt das Glück mit Matthias Reim.

Als die Liebe nach zwei Jahren in die Brüche geht, ist die gemeinsame Tochter Marie Louise gerade neun Monate alt. "Michelle sucht in ihrem Privatleben eine heile Welt", erklärt Kanthak. Aber es scheint, als reproduziere sie die als Kind erlebte Familienzerrüttung. "Wir hätten die Bekanntgabe des Scheiterns der Beziehung zu Matthias Reim gerne verzögert bis nach der Grand Prix-Ausscheidung", sagt Kanthak, aber geschadet haben ihr die Schlagzeilen offenbar nicht. Sie vertragen sich mit dem Image von Michelle, das durch zwei Dinge gekennzeichnet ist: Ehrgeiz und Authentizität. Michelle wirkt echt, trotz aller Irrealität des Schlagerkitsches. Die bei Interviews durchschimmernde Naivität lässt sie aufrichtig erscheinen. Da stören eine verpfuschte Kindheit und gescheiterte Beziehungen nicht. Eher werden sie zu einem Beleg für das Image der Natürlichkeit.

So gesehen ist Michelle, auch wenn sie singen kann, gar nicht so weit entfernt von den Verona Feldbuschs und Zlatkos. Sie können in der Welt geklonter Teleprofis ihre Unbedarftheit versilbern, weil die Zuschauer nach echten Menschen in der medialen Virtualität verlangen. Es ist gerade Michelles Mangel an Ironie, der sie hier auszeichnet. Ihre ungebrochene Hingabe ist aufrichtig. Vielleicht ist es genau das: Deutschland dürstet nach aufrichtiger Hingabe.

Nicholas Körber

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