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Michelle Obama: Keine Angst vor bösen Kommentaren

Mehr als ein Jahr ist sie nun First Lady. Rein äußerlich könnte es scheinen, als hätte sich in ihrem öffentlichen Auftreten wenig geändert. Doch Michelle Obama öffnet sich den Medien – und widmet sich als First Lady neuen Themen.

Mit Kindern konnte sie schon immer. Auch an diesem Märztag überbrückt sie die ehrfurchtsvolle Distanz, die ihr hohes Amt mit sich bringt, im Handumdrehen. Sie erzählt von ihren beiden Töchtern und den Regeln, die bei den Obamas für das abendliche Lesen gelten – und schon ist Michelle Obama nicht mehr die Respekt einflößende First Lady aus dem Weißen Haus, der vornehmsten Adresse der Nation, sondern wirkt wie eine normale Mutter. „Bei uns gilt: Die Mädchen dürfen 30 Minuten länger das Licht anlassen, aber nur, wenn sie die Zeit zum Lesen nutzen. Und so nehmen sie jeden Abend ein Buch in die Hand.“

Es ist eine drollige Szene in der ehrwürdigen Library of Congress. Die Wände der Großen Halle sind marmorverkleidet, die Lampen werden von griechischen Statuen getragen, die Decke ist mit antiken Sagenbildern ausgemalt. Auf dem Boden hocken 120 Sechs- bis Neunjährige mit 50 Zentimeter hohen, rot-weiß geringelten Hüten auf dem Kopf – das Markenzeichen der Titelfigur des populären Kinderbuchs, aus dem Michelle Obama gleich vorlesen wird: „The Cat in the Hat“ von Dr. Seuss, der an diesem Tag 106 Jahre alt geworden wäre. Es ist der Auftakt zur landesweiten Kampagne „Read across America“, die die Lust am Lesen fördern soll.

Sie beschränkt sich nicht aufs Vorlesen, sondern fragt die Grundschüler immer wieder nach ihrer Meinung, als die Hauptfiguren des Buchs, Sally und ihr älterer Bruder, an einem Regentag im Haus bleiben müssen, während die Mutter Besorgungen macht, und plötzlich diese Katze mit dem Hut auftaucht und die beiden Kinder zu allerlei Leichtsinn verleiten möchte. „Wer von euch ist auf der Seite der Katze?“, will die First Lady wissen. Einige Hände gehen in die Höhe. „Ich wusste doch, dass auch ein paar von euch Unfug im Kopf haben.“ Und wer hält es mit dem Fisch, der in dem Buch die warnende Stimme der Vernunft ist? Die meisten Hände gehen in die Höhe. „Richtig. Ihr solltet immer auf euren Fisch hören!“ Schließlich kommt die Mutter der Kinder nach Hause. Die Katze kann gerade noch die schlimmsten Spuren ihrer missglückten Jongliertricks beseitigen. „Würdet ihr eurer Mutter sagen, was in ihrer Abwesenheit passiert ist?“ – „Noooo!“ Michelle Obama kann sich das Lachen kaum verkneifen, kämpft aber um einen missbilligenden Gesichtsausdruck. „Ich würde sagen: Seinen Eltern soll man immer die Wahrheit sagen.“ Sie blickt in 120 Augenpaare. „Jetzt noch mal alle zusammen im Chor: Seinen Eltern soll man immer die Wahrheit sagen.“

Mehr als ein Jahr ist sie nun First Lady. Rein äußerlich könnte es scheinen, als hätte sich in ihrem öffentlichen Auftreten wenig geändert. Auch in den ersten Monaten des vergangenen Jahres war sie in Schulen und Kindertagesstätten in der Umgebung ihres neuen Zuhauses gegangen, hatte vorgelesen oder mit Jugendlichen über deren Alltag und Sorgen gesprochen. Doch damals schloss sie die Medien weitgehend aus. Im langen Präsidentschaftswahlkampf hatte sie erlebt, wie die politischen Gegner ihres Mannes ihr die Worte im Munde umdrehten, und sich zu einem äußerst zurückhaltenden Umgang mit Journalisten entschlossen. Bis auf wenige Ausnahmen galt im Jahr 2009 für Auftritte der neuen First Lady: Nur eine Kamera und ein Print-Reporter durften sie in der Regel begleiten.

Nach 14 Monaten sind diese Beschränkungen gefallen. Sie tritt jetzt öfter öffentlich auf und reist durch die US-Bundesstaaten. In der vergangenen Woche absolvierte Michelle Obama gleich vier Termine mit freiem Zutritt für alle Medien. Am Montag warb sie für gesündere Nahrungsmittel bei den Schulmahlzeiten, am Dienstag für das Lesen. Am Mittwoch flog sie nach Jackson, Mississippi, um ihre neue Kampagne „Let’s move!“ gegen Fettleibigkeit durch mehr Bewegung anzuschieben. Am Freitag machte sie dem Fußball-Jugendverband ihre Aufwartung; ihre beiden Töchter spielen „Soccer“, die europäische Variante und nicht etwa „American Football“.

Es ist eine Ausweitung ihrer Themenpalette. In der Anfangszeit hatte sie sich auf vier Bereiche konzentriert. Sie sprach über den Wert der Familie und demonstrierte es an ihren eigenen Prioritäten. Die Aufgaben der First Lady nehme sie ernst, und sie bereiteten ihr Freude, sagte sie damals. Doch noch davor rangiere ihre Verantwortung für die Erziehung ihrer beiden Töchter. Sie investierte, zweitens, viel Zeit, um Kinder aus Minderheiten und speziell afroamerikanische Mädchen zu ermuntern, nach Bildung zu streben und sich nicht einreden zu lassen, sie seien für bessere Jobs nicht geboren. Drittens wurde sie zur Schutzpatronin der Soldatenfamilien und der Frauen, deren Männer verwundet aus dem Irak oder Afghanistan heimkehren. Viertens warb sie für eine Neubelebung ehrenamtlicher Dienste an der Gesellschaft.

Die Medien scheinen ihre neue Offenheit entweder nicht bemerkt zu haben. Oder ihr Interesse an der First Lady ist nach 14 Monaten des eingeschränkten Zugangs für Journalisten erlahmt. Nur eine Handvoll Reporter erschien, als sie vorlas und als sie den Verband für die Schulmahlzeiten aufforderte, weniger Fett, süßen Sirup, Zucker und künstliche Salatsoßen, dafür mehr Obst, Gemüse und fettarme Milch anzubieten. 31 Millionen Kinder essen in den Schulen zu Mittag; für viele Schüler aus sozial schwachen Schichten sei es die einzige geregelte Mahlzeit des Tages, sagt Michelle Obama. Wenn die First Lady solche Vorschläge macht, verfällt sie mitunter in den Pluralis Majestatis. „Wir wissen: Die Schulcafeteria ist das wichtigste Klassenzimmer. Schüler nehmen die Hälfte ihrer täglichen Kalorien in der Schule auf.“ Dafür bekommt sie Standing Ovations von den Schulfunktionären.

Gegenüber den Kindern geht ihr das „Ich“ ganz selbstverständlich über die Lippen. Nach dem Vorlesen fragen die nach ihrem Leben im Weißen Haus und sprechen sie in so zutraulichem Ton mit „you“ an, dass man es einfach mit dem deutschen Du (statt Sie) übersetzen muss. „Was ist dein Lieblingsplatz im Weißen Haus?“ – „Der Truman-Balkon auf der Südseite. Da hat man einen so schönen Blick auf die Gedenkstätten und riecht die Blumen im Frühling.“ – „Und was tust du am liebsten?“ – „Schmusen mit meinen Töchtern auf dem Sofa, wenn sie aus der Schule kommen. Und Sport.“ Nach einer kurzen Pause setzt Michelle Obama rasch hinzu: „Und natürlich Lesen.“ Schließlich ist „Read across America“-Tag.

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