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Panorama: Mit weit geöffneten Augen

Eine Straße, eine Baustelle, Kinder auf dem Schulweg. Und plötzlich eine Explosion: Alfred Herrhausen ist tot. Die Anwohner spüren auch 15 Jahre später noch den Riss in der Normalität

Anfangs beunruhigte sie jedes Auto, das nicht sofort einem der Anwohner des Seedammwegs zugeordnet werden konnte. Auch jede Baustelle machte sie misstrauisch. Immer fragte sie sich, ob die wohl echt sei oder auch nur eine Attrappe, eine Täuschung. Herta Liebel ist 69 Jahre alt, Rentnerin und lebt mit ihrem Mann seit 23 Jahren an einer viel befahrenen Straße in Bad Homburg.

Der Seedammweg führt zum Amtsgericht, zum Kaiserin-Friedrich-Gymnasium, zum Wohngebiet Ellerhöhe, zum Schwimm- und zum Thermalbad. Und er führte Alfred Herrhausen, den Vorstandssprecher der Deutschen Bank in den Tod. Jahrelang passierte er die Straße in seiner gepanzerten Limousine, bis zum 30. November 1989, als im Seedammweg eine Bombe explodierte.

Der Seedammweg war eine Möglichkeit gewesen, um von Herrhausens Haus im Ellerhöhweg auf die nach Frankfurt führende Autobahn 661 zu kommen. Das Haus im Ellerhöhweg wird nach wie vor von seiner Witwe Traudl Herrhausen bewohnt. Seine Tochter Anna, die 1989 auch auf das Kaiserin-Friedrich-Gymnasium ging, begann nach dem Abitur in England zu studieren.

Heute, 15 Jahre nach dem Attentat, sitzt Herta Liebel im hellen Wohnzimmer ihres Hauses. Es ist ein schöner Tag. Kalt, doch die Sonne strahlt. Noch hängen ein paar schlaffe Fuchsien über den Rändern der Tontöpfe im Garten. Wo die Sonne noch nicht hinreicht, ist der Rasen mit Reif überzogen. „Eigentlich“, sagt Herta Liebel, „war es ein wunderbarer Morgen damals, schöner noch als der Tag heute.“ Es war ein Morgen, an dem die Kinder auf der Straße zum ersten Mal im Herbst bunte Mützen trugen. Ein Morgen, an dem Herta Liebel im Flur schon ein Päckchen mit Weihnachtsplätzchen für ihren Sohn in Erlangen bereitgestellt hatte. Mit einem Blick auf die Straße verschob Herta Liebel ihre Fahrt zur Post. Den Berufsverkehr wollte sie abwarten. Auf dem Weg in den Waschkeller sah sie, wie sich die Bürgersteige des Seedammwegs leerten. Sah die Baustelle gegenüber, vor dem Thermalbad. Weiter oben in der Straße parkte ein weißer Opel Kadett. Sie hörte, wie die Glocke des nahe gelegenen Gymnasiums zum zweiten Mal rief. Die letzten Schüler beeilten sich. Herta Liebel begann im Keller, eine Waschmaschine zu füllen.

Dann ändert sich das Leben der Menschen im Seedammweg.

„Einen unglaublich lauten Schlag“, der die Zeitrechnung der Bewohner des Seedammwegs fortan in ein „Vorher“ und „Nachher“ teilen soll, habe sie damals, an jenem Morgen des 30. November, aus ihrem Alltag gerissen, erinnert sich Herta Liebel. Im Haus der Liebels fallen Bilder von den Wänden. In den Schwimmbädern und im Kaiserin-Friedrich-Gymnasium werden Fensterscheiben und Garagentore eingedrückt. Herta Liebel läuft raus auf die Straße.

Thomas Reiter, der 1989 noch aufs Kaiserin-Friedrich-Gymnasium ging und damals mit seinen Eltern neben den Liebels wohnte, erreicht nur wenige Minuten später das Gartentor. Zunächst wird gemutmaßt, die Explosion sei im Thermalbad gewesen. Dann verzieht sich der Rauch auf der Straße. Es ist 8 Uhr 30. Das Bild, das die Anwohner nun sehen, wird mittags in allen Nachrichtensendungen sein: Ein dunkler Mercedes steht quer auf dem Seedammweg, kurz hinter der Baustelle. Die Explosion der Bombe hat ihn dorthin geschleudert und fast zerrissen. Es ist die Limousine Alfred Herrhausens. Während sie nachmittags von der Polizei verhört werden, erfahren die Liebels, auch Thomas Reiter und seine Eltern: Der Wagen von Herrhausen war durch eine Lichtschranke gefahren, durch sie war die Explosion der Bombe ausgelöst worden. Getarnt hatten die Täter die Lichtschranke durch die Baustelle vor dem Thermalbad, hatten wochenlang einen weißen Opel Kadett im Seedammweg geparkt, um von dort aus die Straße zu überwachen. Das „Kommando Wolfgang Beer“ der RAF bekennt sich zu dem Mord.

Heute erinnern drei schlichte Basaltsäulen im Seedammweg, nur ein paar Schritte von Thomas Reiters Elternhaus entfernt, an die Stelle des Attentats. Ein Zitat des Philosophen Karl Popper ist auf einer zu lesen: „Nur dort war die Gesellschaftskritik von Erfolg gekrönt, wo es die Menschen gelernt hatten, fremde Meinungen zu schätzen und zu ihren politischen Zielen bescheiden und nüchtern zu sein, wo sie gelernt hatten, dass der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, nur allzu leicht die Erde in eine Hölle für die Menschen verwandelt.“

Thomas Reiter war 15 Jahre alt, als das Attentat verübt wurde. An Gesellschaftskritik hatte der heute in Hamburg lebende Manager eines Internet-Reiseanbieters damals nicht viel Interesse. Es gab Wichtigeres: Mädchen, Konzerte. Noch heute hängt ein Queen-Poster im alten Kinderzimmer. Was „Hölle“ bedeutet, habe er nach dem 30. November 1989 gewusst, sagt Thomas Reiter. „Weil ich vor dem Mord an Herrhausen wochenlang Tag für Tag mit unserem Hund die Straße entlanggelaufen bin und dennoch nichts, absolut nichts bemerkt habe von dem, was dort aufgebaut wurde – hinter der angeblichen Baustelle.“

Er seufzt. Noch heute beschäftigt ihn die Frage, ob den Anwohnern nicht etwas hätte auffallen müssen. Schuld? Nein, antwortet er. „Nur ein Gedanke, der nicht zu kreisen aufhören will.“ Tief sitzt die Erfahrung, dass unbemerkt ein Verbrechen in der eigenen Welt vorbereitet werden konnte. „Plötzlich war klar: Es kann immer und überall etwas passieren“, sagt Thomas Reiter. Auch sei er durch den Mord an Alfred Herrhausen zum ersten Mal mit dem Tod eines Menschen konfrontiert gewesen. Es klingt rau, als er das sagt. Er sei durch das Attentat wacher geworden: „Ich beobachte viel genauer – ob am Flughafen, Bahnhof, bei mir in Hamburg in der Straße, egal wo.“

Unvermeidlich auch die Frage: Was gewesen wäre, wenn – wenn man selbst betroffen gewesen wäre, am eigenen Körper, durch den Verlust eines Familienmitglieds. Herta Liebel hat seit dem Mord an Alfred Herrhausen oft daran gedacht, dass sie vorgehabt hatte, an diesem Morgen zur Post zu fahren. „Zum Zeitpunkt des Attentats wäre ich auf dem Seedammweg gewesen“, sagt sie, spricht aber nicht weiter. Vielleicht überlegt sie, dass sie trotz des Schocks über das Attentat, trotz des Mitgefühls, auch froh ist – froh, dass nicht noch mehr Menschen verletzt wurden. Vor allem keines der Schulkinder. Aber wie spricht man vom Glück im Unglück?

Sie hat sich gefragt, warum das Sicherheitskonzept K 106 versagt hat. Hat sich gefragt, ob das Attentat nicht hätte verhindert werden können. Manch Wunschgedanke bleibt – auch 15 Jahre später. „Ein Nachbar aus dem Rosengarten, der Straße gegenüber, ging morgens mit seinem Hund spazieren“, erzählt Herta Liebel. In der Nähe des Thermalbads habe ein Mann gestanden. Einer, den man aus der Gegend nicht kannte. Der Nachbarshund habe den Fremden angeknurrt. „Obwohl es sonst ein sehr wohlerzogener Schäferhund war“, sagt Herta Liebel, „aber Tiere spüren ja die Aufregung eines Menschen.“ Der Mann sei weggerannt. Kaum halten können habe der Nachbar seinen Hund. Dann explodierte die Bombe. „Wenn man es doch gewusst hätte“, sagt Herta Liebel, „dann hätte man vorher den Hund auf diesen Mann gehetzt.“

Den Fremden von der Treppe damals hält ihr Ehemann Helmut Liebel, der als Jurist in Frankfurt arbeitet, für einen der Täter. Aus der Kanzlei, in der er heute noch tätig ist, kannte Helmut Liebel Alfred Herrhausen. Dass das Attentat von der RAF verübt wurde, daran hat der Jurist Zweifel. Andere Kräfte seien da am Werk gewesen, Wirtschaftsmächte vielleicht – wegen Herrhausens Eintreten für den Schuldenerlass der Entwicklungsländer. Herta Liebel teilt diese Ansicht. An eine Aufklärung des Mordes glaubt das Ehepaar nicht mehr – obwohl es nicht aufgehört hat, über die Wahrheit nachzudenken. Die beiden schätzten Alfred Herrhausen. „Da hat endlich mal jemand einen sozialmoralischen Diskurs angestoßen.“ Herta Liebel macht eine Pause. Überlegt kurz. Dann sagt sie noch, der unaufgeklärte Mord habe ihr Vertrauen in den Staat genommen.

Sieben Jahre lang wurde der in den Untergrund abgetauchte RAF-Sympathisant Christoph Seidler der Tat verdächtigt und per Haftbefehl gesucht. Doch nachdem sich Seidler 1996 gestellt hatte und vernommen worden war, sah der Ermittlungsrichter keinen Grund mehr, den Haftbefehl aufrechtzuerhalten. Ein dringender Tatverdacht, hieß es damals, bestehe nicht. Damit stand die Bundesanwaltschaft ohne eine heiße Spur da. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

„Irgendjemand muss da bei den Ermittlungen ein Auge zugedrückt haben“, glaubt Thomas Reiter. Vertrauen in den Staat? Nein, das habe er – in dieser Hinsicht zumindest – verloren. Dass bis heute Verschwörungstheorien kursieren, wundert ihn nicht. „Wenn man bedenkt, wie viele RAF-Attentate ganz aufgeklärt wurden, hier aber nicht klar ist, welche Mitglieder die Sache geplant und ausgeführt haben, schürt es natürlich Vermutungen über Geheimdienste, die die RAF vielleicht unterwandert hatten“, sagt Thomas Reiter. Merkwürdig sei das alles. Und bedauerlich: Dass die Finanzwelt jemanden verloren habe, der sozialen Verstand hatte. Jedes Nachhausekommen sei mit der Erinnerung an das Attentat verbunden. „Wenn ich von der Autobahn komme und in den Seedammweg abbiege, habe ich kein warmes Willkommensgefühl, fühle mich nicht aufgehoben“, sagt er. Bringt Thomas Reiter Freunde in seine Heimatstadt, wird er manchmal auf das Attentat angesprochen: Wo es genau stattgefunden habe, wo Thomas zu den Zeitpunkt gewesen sei, ob er etwas bemerkt habe. Meist besichtigen sie dann auch die Gedenkstätte für Alfred Herrhausen, die Basaltsäulen.

Auf der zweiten Säule ist ein Zitat von Ingeborg Bachmann eingemeißelt: „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“, lautet es. Im Seedammweg wird sie immer noch eingefordert.

Anne Siemens[Bad Homburg]

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