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Indien stemmt 20 Prozent der Baumwollproduktion. Hier sitzt eine Arbeiterin auf einem Markt in Kalkutta.

© dpa

Indische Spinnereien beuten Frauen aus: Knechtschaft statt Reichtum

Sumangali heißt eine besondere Methode der systematischen Ausbeutung in südindischen Spinnereien. Auch Maheshwari Murugan arbeitete als junge Frau in so einer Fabrik. Davon erzählt sie in Berlin.

Als Maheshwari Murugan über Sumangali zu sprechen beginnt, erfüllt die zierliche Frau mit ihren kleinen Bewegungen sofort den Raum. Sie spricht tamilisch, eine Sprache, deren Stakkato – ebenso wie ihre grelle Stimme – die Eindringlichkeit ihres Berichts unterstreicht. „Sumangali“ bedeutet auf Tamilisch „schöne Braut, die Reichtum verspricht“. Gemeint ist damit die Ausbeutung junger Mädchen in indischen Spinnereien.

Maheshwari Murugan kommt aus der südindischen Region Tamil Nadu. Auch sie war Arbeiterin in einer Spinnerei und hat unter ähnlichen Bedingungen geschuftet wie die Sumangalimädchen. Heute versucht die Inderin, Mädchen vor Sumangali zu bewahren und zu befreien. Dafür fährt sie bis nach Deutschland, die Frauenrechtsorganisation Femnet hat sie eingeladen.

Oft sehen sie tagelange die Sonne nicht

So wie ihr ergeht es jedes Jahr tausenden junger Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren. Die Spinnereien senden Anwerber in die armen Provinzen. Sie versprechen Kost, Unterbringung und 500 bis 800 Euro zum Ende der drei- bis fünfjährigen Lehrzeit; für diese Familien viel Geld. Es soll für die Mitgift genutzt werden, ohne die indische Töchter nicht verheiratet werden können. Ehefrau zu sein ist das höchste gesellschaftliche Ziel.

Zunächst klingt all das nach einem attraktiven Angebot. In den Fabriken angekommen, sieht die Realität allerdings völlig anders aus. Die Mädchen müssen sich zu zwölft und mehr einen kahlen Raum teilen, wo sie auf Matten auf dem Boden schlafen. Ihre Ausbildung besteht aus zwölf und mehr Stunden Arbeit am Tag und in Nachtschichten, so dass sie manchmal über Tage hinweg nicht die Sonne sehen. Pausen machen sie selten und das Fabrikgelände verlassen sie nie unbegleitet. Essen, Medikamente und andere Bedarfsartikel bekommen sie von ihren Vorgesetzten.

Sie werden verbal und körperlich misshandelt: ihre Vorgesetzten sind immer Männer. Die unhygienischen Zustände führen zu tödlicher Diarrhöe. Viele Arbeiterinnen leiden unter Haut- und Atemwegserkrankungen, da sie schutzlos dem Baumwollstaub ausgesetzt sind. Anämie und Migräne sind Folgen der Unterernährung. Für einige ist der Freitod der einzige Ausweg, denn die Arbeit zu beenden würde sie das Ansehen in der Heimat kosten. Anderen zahlt man nach Durchlaufen dieser Schuldknechtschaft den Lohn aus fadenscheinigen Gründen nicht aus.

Die wenigsten Frauen können lesen und schreiben

Indien ist ein Knotenpunkt der globalen Textilindustrie. Das Land stemmt 20 Prozent der weltweiten Baumwollproduktion. 35 Millionen Arbeiter, davon 90 Prozent Frauen, produzieren textile Rohstoffe, spinnen, weben, färben, behandeln und nähen. Ihre Kunden sitzen hauptsächlich in Nordamerika und Europa. Die südindische Region Tamil Nadu bildet dabei ein Zentrum. Rund 60 Prozent der Textilfabriken sind in diesem Bundesstaat angesiedelt, davon mehr als 1300 Spinnereien. Rund 650 von ihnen nutzen das Sumangali-System.

Begleitet wird Maheshwari Murugan von Anita Cheria, Vertreterin der Frauenrechtsorganisation und Gewerkschaft ,Munnade‘ in Bangalore, deren weiches Englisch und Lächeln einen warmen Optimismus ausstrahlt. Beide sind sich einig, dass die fehlende Bildung der Schlüssel des Erfolgs von Sumangali ist. „Die Familien der Mädchen sind sehr einfach. Die wenigsten haben lesen und schreiben gelernt. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass diese feinen Männer sie hinters Licht führen“ erklärt Murugan. Viele Fabrikbesitzer nutzen genau das aus und wollen den Lohn noch weiter drücken. Anita Cheria erzählt: „Der Trend geht in Richtung ,hosted labourers‘. Die Fabriken bieten den Frauen an, Kost und Unterbringung zu übernehmen. Sie bringen sie in kargen Räumen unter, so dass wir noch weniger Zugriff haben, dafür aber die Fabriken umso mehr.“ Zudem würden die Beschäftigten immer jünger. „Man sieht in den Fabriken keine Frau über 35 Jahre. So lange überlebt keine diese Arbeit. Und das Eintrittsalter wird immer geringer. Momentan liegen wir bei 18 Jahren.“

Sumangali gibt es erst, seit der Preiswettbewerb immer härter wird

Den Ursprung dieser Tendenzen verorten die Frauen dort, wo das Produkt seinen Anfang nimmt und am Ende ankommt: bei den Auftraggebern und den Konsumenten. Denn Sumangali ist kein traditionelles System, sondern kam 2005 auf, etwa zur gleichen Zeit, als die Nachfrage nach Billigkleidung in Ländern wie Deutschland rasant anstieg.

Die Garnhersteller stehen – ebenso wie Fertigungsbetriebe – in starken Preiswettbewerb zueinander, wobei der Lohn im Gegensatz zur Miete und zur Energie variabel ist. Im Falle der Sumangalimädchen beläuft er sich auf einen Bruchteil dessen, was ein erwachsener Arbeiter kosten würde. Diese Ersparnisse können die Zulieferer auf ihre Marge umlegen und bei Bedarf Preise senken.

Ein System, das etwa die Hälfte der Spinnereien in Südindien überzeugt: Sie rekrutieren aktuell um die 200 000 Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren, womit sie nicht einmal das Gesetz brechen. Zwar ist Kinderarbeit in Indien verboten und der Mitgiftbrauch auch, aber offiziell beschäftigen die Fabriken nur Mädchen knapp oberhalb der vorgegebenen Altersgrenze als Auszubildende. Das ist erlaubt, auch gegen geringere Löhne.

Aus dem Garn wird Kleidung für viele westliche Firmen gemacht

„Das Sumangali-System steht im direkten Zusammenhang mit der Einkaufspolitik der Textilkonzerne. Durch ihre Konditionen schaffen sie die Grundlage für solche Zustände am anderen Ende der Lieferkette und geben zugleich die Verantwortung dafür ab“, sagt Gisela Burckhardt, Vorstand von Femnet. „Durch unsere Recherchen konnten wir nachweisen, dass sowohl für Waren der Firma Ernsting’s Family als auch für Otto nach Sumangali produziertes Garn verwendet wurde.“

Laut des Berichts „Captured by Cotton“ des niederländischen Forschungsinstituts SOMO vom Mai 2011 können auch Marken, wie ASOS, Bestseller, C & A, H & M und Primark mit Sumangali in Verbindung gebracht werden. Woraufhin unter anderem C & A Stellung bezog und entsprechende Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen zur Bekämpfung des Systems auswies.

Femnet fordert allerdings mehr von den deutschen Unternehmen. „Wir verlangen eine lückenlose Transparenz hinsichtlich ihrer Zulieferer und Kontrollen der Arbeitsbedingungen in den Fabriken. Gegenüber dem Staat fordern wir eine Haftungs- und Offenlegungspflicht für die Hersteller“, sagt Gisela Burckhardt. Nur so würde man die Unternehmen dazu bringen können, Verantwortung zu übernehmen.

So mag es wohl beim Konsumenten liegen, den Herstellern und mittelbar den Produzenten die Legitimation für solche Umstände zu entziehen. Entsprechend schloss Anita Cheria mit einem Anliegen die Veranstaltung in Berlin: „Wir wünschen uns, dass die Verbraucher in Ländern wie Deutschland realisieren, dass sie mit dem Preis, den sie für ihre Kleidung bezahlen, die Arbeitsbedingungen in unserem Land mitbestimmen.“

Fredericke Winkler

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