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Franz Müller.

© Wikipedia

Mord im Zug: 21.45 ab Fenchurch Street

Der Mord im Zugabteil ist ein Krimiklassiker. Vor 150 Jahren ereignete sich die erste echte Tat. Es war in London. Und ein Deutscher stand im Mittelpunkt.

Zugfahren ist bequem. Zugfahren ist angenehm. Man kann zum Beispiel lesen, während man reist. Kriminalromane etwa. So kam es wohl, dass Krimis immer wieder in Zügen spielen. Der Mord im dunklen Abteil, die Vorhänge zugezogen, die Leiche über das Fenster entsorgt, der Zug donnert ungerührt weiter. Oder auch nicht, wie in Agatha Christies „Murder on the Orient Express“, wo er im Schnee stecken bleibt. Miss Marples erschrockenes Gesicht, als sie in „16 Uhr 50 ab Paddington“ den Mord im parallel überholenden Zug mitbekommt, ist legendär geworden dank steter Wiederholung in den Dritten Programmen. Constantin Costa-Gavras’ Erstlingsfilm hieß bei uns „Mord im Fahrpreis inbegriffen“, er spielt im Fernzug Marseille–Paris.

Er kam aus Preußen

Doch wann ereignete sich der erste echte Mord im Abteil? 1864 war’s, 150 Jahre zurück. Und wie könnte es anders sein: Es passierte in England, im Norden Londons, man denkt an Nebel, die Lok pfeift, die Räder rattern, der Lärm verschluckt einen Schrei ... Der Mörder war nicht Gärtner, sondern Schneider. Er kam aus Preußen. Die Story ist filmreif.

Am 16. Juli 1864 berichteten die „Illustrated London News“ von dem Fall, der sich am Samstag davor ereignet hatte. Thomas Briggs, leitender Angestellter der Bank Roberts, Curtis & Co., fuhr um 21.45 Uhr mit der North London Railway vom Bahnhof Fenchurch Street ab nach Hackney. In den fünf Minuten zwischen den Stationen Bow und Hackney geschah es: Der Täter schlug Briggs auf den Kopf, verletzte ihn schwer und warf den Leblosen aus dem Erste-Klasse-Abteil (Waggons hatten noch keine Gänge, man betrat die Einzelabteile direkt vom Bahnsteig aus). Der siebzig Jahre alte Mann starb kurz darauf.

Eine goldene Uhr

Der Mörder raubte ihm eine wertvolle goldene Uhr samt Kette. Diese Kette tauschte er bei dem Juwelier John Death in eine andere Kette um. Die zugehörige Schachtel, auf die der Name des Juweliers gedruckt war, schenkte er der kleinen Tochter eines Droschkenkutschers namens Matthews, mit dessen ältester Tochter er einmal verlobt gewesen war. Matthews schöpfte Verdacht und meldete sich bei der Polizei. Die zeigte Death eine Fotografie, und der Geschäftsmann erkannte den Kunden, der die Ketten tauschte. Franz Müller, so hieß der 23-jährige Schneider, war nun ein gesuchter Mann.

Mord im Orient-Express: Ein Bild aus dem Film von 1974.
Mord im Orient-Express: Ein Bild aus dem Film von 1974.

© Imago

Auf dem Segler nach Amerika

Und er war auf der Flucht, wie die „London Illustrated News“ am 23. Juli zu berichten wussten. Müller hatte sich auf dem Segelschiff „Victoria“ Richtung Amerika eingeschifft. Scotland Yard handelte schnell. Ein Inspector Tanner und ein Sergeant Clarke setzten sich samt Death und Matthews in Euston Station in den Zug nach Liverpool und bestiegen dort den Dampfer „City of Manchester“, der New York drei Wochen früher erreichte als die „Victoria“ (welch eine Dienstreise). Müller wurde festgenommen, die gestohlene Uhr hatte er bei sich. Im Prozess in London beteuerte er zwar seine Unschuld, eine Prostituierte sagte auch aus, er sei zur Tatzeit bei ihr gewesen. Doch das Gericht in Old Bailey sah eine erdrückende Beweislage gegen Müller und verurteilte ihn zum Tod. Wilhelm I. von Preußen setzte sich umsonst für ihn ein. Am 14. November 1864 wurde Müller vor dem Gefängnis von Newgate vor 50 000 Zuschauern gehängt, eine der letzten öffentlichen Hinrichtungen in England, denn wie meist waren viele Zuschauer besoffen und benahmen sich daneben.

Müllers Tat hatte Folgen. Wegen der wachsenden Ängste vieler Zugfahrer wurden bald schon Kordeln in die Waggons gespannt, über die man, wenn man daran zog, Begleitpersonal auf sich aufmerksam machen konnte. Auch wurden zwischen die Abteile runde Gucklöcher geschnitten, „Muller’s Lights“ genannt. Zudem trug der Fall dazu bei, dass nun Waggons mit Verbindungsgängen gebaut wurden. Ein besonderer Fall also, dieser erste Mord im Abteil. Man liest ihn besonders gelöst im Großraumwaggon und ist zur Abwechslung mal froh, dass der voll ist.

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