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Mordfall Kardelen: Zu Recht mit der Ehre

Der mutmaßliche Mörder der kleinen Kardelen hat sich in der Türkei der Polizei gestellt und soll nicht an Deutschland ausgeliefert werden, obwohl sich die Tat hier ereignet hat. Wie ist das möglich?

Als Kadir Ayaz aus Paderborn hörte, dass sein Schwiegersohn wegen Mordes gesucht wurde, stand sein Entschluss fest. Ayaz besuchte die Eltern der kleinen Kardelen, die von dem 29-jährigen Ali Kur, dem Ehemann von Ayaz’ Tochter Zehra, ermordet worden sein soll. „Wir leben ja ganz in der Nähe“, sagte Ayaz am Mittwoch dem Tagesspiegel. „Ich versprach ihnen, dass ich meinen ehrlosen Schwiegersohn finden und der Justiz übergeben würde. Es war für mich eine Sache der Ehre.“ Ayaz hielt Wort und spürte Kur nach eigenen Angaben in der Westtürkei auf. Die türkische Polizei reklamierte den Fahndungserfolg zwar für sich und erklärte, Kur sei bei einer Straßenkontrolle festgenommen worden. Dennoch zeigte sich Ayaz erleichtert. Das entsprach den Gefühlen vieler Menschen in der Türkei und in Deutschland.

Mit Freunden und Privatdetektiven hatte Ayaz tagelang nach Kur gesucht. Zunächst blieb die Privatfahndung ebenso erfolglos wie die offizielle Suche durch die türkische Polizei. Die Wende kam laut Ayaz am vergangenen Wochenende. Er überredete Kurs Angehörige, ihm Telefonkontakt zu seinem Schwiegersohn zu verschaffen, der sich im Haus einer Tante in Didim versteckte, einem kleinen Urlaubsstädtchen an der Ägäis. Am Dienstagabend wollten sich beide dort treffen. Kur kam tatsächlich in einem Wagen zum Atatürk Boulevard, wo um 23.00 Uhr Ortszeit der Showdown stattfinden sollte.

Ayaz hatte sich vorsichtshalber Verstärkung mitgebracht, „weil ich weiß, dass er ein Psychopath ist“. Als Kur gesehen habe, dass sein Schwiegervater nicht allein war, habe er Gas gegeben und sei zur Polizei geflohen, sagte Ayaz. Die Festnahme und die Aussicht auf lebenslange Haft ängstigten ihn offensichtlich weniger als sein Schwiegervater. Ayaz sieht seine Ehrenschuld bei den Eltern von Kardelen nun bereinigt. Zusammen mit der 24-jährigen Zehra will er jetzt rasch nach Paderborn zurückkehren und deren Scheidung von Kur einleiten. Allerdings war der Aufenthaltsort von Zehra am Mittwoch noch nicht bekannt. Auch ihre Rolle in dem Drama blieb unklar. Ayaz ist sicher, dass seine Tochter von Kur gegen ihren Willen in die Türkei gebracht wurde.

Der Verdächtige ist Türke und wurde in der Türkei verhaftet

Für den Mordverdächtigen beginnt nun das juristische Verfahren, und zwar in der Türkei. Die türkischen Behörden hatten rasch deutlich gemacht, ihn im eigenen Land vor Gericht stellen zu wollen. Die zuständige deutsche Staatsanwaltschaft will dies respektieren, wie es hieß – viel mehr würde ihr auch nicht bleiben. Denn obwohl das Opfer in Deutschland lebte und sich die Tat hier ereignete: Der Verdächtige ist Türke und wurde in der Türkei verhaftet. Damit greift ein Auslieferungsschutz, wie er auch hierzulande üblich und im Grundgesetz festgeschrieben ist. „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden“, steht in Artikel 16. Ausnahmen soll es nur per Gesetz geben dürfen, wenn EU-Länder nachfragen oder der Festgenommene vor einen internationalen Gerichtshof gestellt werden soll. Und dies gilt auch nur, „soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt“ sind. Die Türkei ist einem Abkommen von 1957 beigetreten, mit dem sich die Staaten verpflichten, gesuchte Straftäter einander auszuliefern. Die Auslieferung eigener Landsleute kann ein Staat dennoch verweigern – und die Türkei, so heißt es aus dem Bundesjustizministerium, liefere grundsätzlich keine eigenen Bürger aus.

So endet die Strafgewalt eines Staates, wenn der Bürger eines anderen die Tat begangen und sich in seinen Heimatstaat abgesetzt hat. Es bleibt dann nur noch die Möglichkeit, das Verfahren abzugeben. Im Fall Kardelen könnte das problemlos verlaufen, die türkischen Behörden sind zur weiteren Strafverfolgung bereit. In einem anderen Fall ist das Ergebnis unbefriedigend: So werden noch immer zwei Brüder von Hatun Sürücü mit internationalem Haftbefehl gesucht. Die Deutschtürkin war am 7. Februar 2005 in Berlin von ihrem jüngeren Bruder durch Kopfschüsse getötet worden, das Opfer eines „Ehrenmordes“. Der damals 18-jährige Täter hatte den westlichen Lebensstil seiner Schwester als Kränkung empfunden. Die Freisprüche für zwei weitere Brüder, gegen die es ebenfalls Verdachtsmomente gibt, hatte der Bundesgerichtshof 2007 aufgehoben. Sie haben türkische Pässe und halten sich vermutlich in der Türkei auf. Die Deutschen kommen nicht an sie heran – die Türken könnten es besser, wenn sie wollten. Sanften Druck könnte ein Strafverfolgungsübernahmeersuchen auslösen. Es zu stellen, ist freilich mehr eine Frage der Diplomatie als des Rechts. Die Berliner Behörden haben bislang darauf verzichtet, „aus verfahrensspezifischen Gründen“, wie es offiziell heißt. Wie aus Justizkreisen zu hören ist, zweifelt man daran, dass ein Verfahren in der Türkei zu einer Verurteilung führt.

Ali Kur kann dagegen auf wenig Verständnis oder gar Mitleid seiner Landsleute vertrauen. Der Fall Kardelen hatte auch die türkische Öffentlichkeit aufgewühlt; an der Beisetzung des Mädchens in der Heimat ihrer Eltern an der Schwarzmeerküste hatten mehrere tausend Menschen teilgenommen. Allerdings sind einige Türken skeptisch, ob das für seine häufigen Strafnachlässe bekannte türkische Justizsystem die richtige Adresse für den Prozess gegen Kur ist. Kur müsse in Deutschland vor Gericht gestellt werden, denn „in der Türkei bleibt er nicht lange im Knast“, schrieb ein „Hürriyet“-Leser.

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