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Panorama: Moskauer Fernsehturm: Leben ohne Fernsehen: Moskauer stürmen Zeitungs- und Videoläden

Seit dem Brand des Moskauer Fernsehturms flimmert es in den Wohnstuben der russischen Hauptstadt nur noch grau in grau. Selbst Bildschirmschoner für Computer sind aufregender.

Seit dem Brand des Moskauer Fernsehturms flimmert es in den Wohnstuben der russischen Hauptstadt nur noch grau in grau. Selbst Bildschirmschoner für Computer sind aufregender. Unter Soziologen ist bereits ein heftiger Richtungsstreit über die Langzeitfolgen der erzwungenen Fernsehabstinenz entbrannt: Babyboom oder ein neuer Rekord bei Ehescheidungen.

Schon gegen elf Uhr abends sind die meisten Fenster dunkel. Wer mag schon den ganzen Abend "Schafskopf" spielen oder würfeln? Sergej legt immer wieder die Karten hin und zappt sich in der Hoffnung auf ein Wunder per Fernbedienung durch alle vierzig Kanäle. Doch es bleibt zappenduster. Nur bei den Kabelsendern der Stadtteile laufen Music-Clips oder Bildschirmtext. Und hin und wieder Kiez-Nachrichten. Top-Themen: Wer hat wen wann umgebracht, wo gibt es billig Sonnenblumenöl, Zucker oder Kartoffeln. Bilderradio, wie es Amateure kaum schlimmer fabrizieren könnten.

Sergej seufzt. Wie, um Gottes willen, mag es bei "Sunset beach" weitergehen und wer läuft Kommissarin Kamenskaja ins offene Messer? Hoffentlich werden die verpassten Folgen der TV-Serien nachgeholt, sagt er. Seine erste Wut über die schwarze Mattscheibe am Sonntag hatte er in Unkenntnis der Ursache an Ehefrau Raissa ausgelassen: "Du mit deiner technischen Unbedarftheit hast wieder mal auf den falschen Knopf der Fernbedienung gedrückt und alle Programme gelöscht". Raissa lächelte böse und blaffte umgehend zurück: "Wer hat denn am Freitag die Glotze spät in der Nacht ausgemacht, weil er unbedingt die Erotik-Show sehen musste?" Zum Glück fällt ihm im letzten Moment Scharik ein, der Hund. Vielleicht habe der das Antennenkabel angeknabbert?

Hoffnungen auf baldiges Fernsehen macht "Radio sieben", der meist gehörte Sender Moskaus - und der mit dem niedrigsten Niveau - mit einem einzigen Satz zunichte. "Hurra, hurra, das Fernsehen brennt", jubelt Moderator Alexej Swerjew, das enfant terrible der Station, das die Hörer Tag und Nacht mit Schlagern und Unsinn unterhält. "Ätsch", verkündet Swerjew triumphierend am Sonntag zum Ende seiner Sonderschicht. "Jetzt haben wir euch alle wieder."

Wahrscheinlich für lange. Zwar stellen inzwischen Staatssender RTR und dessen offiziöser Halbbruder ORT ihre Informationssendungen ins Internet. In Moskau gibt es bereits eine halbe Million Surfer, der Zugang zum Web ist jedoch wegen der katastrophalen Qualität des Telefonnetzes, das teilweise durch den Brand ebenfalls in Mitleidenschaft jedesmal ein Härtest. Informationen vor allem aber Bilder bauen sich hier sechsmal langsamer auf als in Deutschland. "Die Zeitungen sind bis Mittag alle", sagt Irina vom Zeitungsstand. "Wir werden jetzt mehr bestellen", fügt sie mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. Ihr Nachbar, der Lebensmittelverkäufer Alexander, hat sich dagegen böse verkalkuliert. "Bier ist alle", prangt die hilflose Botschaft an seinem Kiosk. "Hätte ich gestern bloß mehr geordert", ärgert sich Alexander. "Die Leute treffen sich jetzt halt häufiger mit ihren Freunden zu einem Bierchen", meint er.

Derweilen freuen sich die Videohändler. Allein den jüngsten Bond-Film "Die Welt ist nicht genug" habe er seit Montag mindestens ein Dutzend Mal verkauft, sagt Video-Verkäufer Viktor stolz. Makaber genug: Der Spielfilm endet mit der Katastrophe eines russischen Atom-U-Bootes. So findet das Fernsehprogramm der letzten Wochen auf den Bildschirmen seine Fortsetzung.

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