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© dpa

Musikbranche: Charts in Verruf

Mit einem komödiantischen Beitrag hat Mario Barth eine Debatte über den Sinn der Rangliste ausgelöst.

Wenn am Freitag die deutschen Alben-Charts bekannt gegeben werden, werden Tokio Hotel mit „Humanoid“ an erster Stelle stehen. Das ist nicht überraschend. Eher schon, dass sich mit Ausnahme von Kiss nur deutsche Künstler auf den ersten Plätzen tummeln: Scooter (2), Nena (3) und Bela B (5). So gut stand deutsche Popmusik lange nicht da. Aber tut sie das wirklich? Die größere Überraschung: Alle fünf Alben sind Neuzugänge.

Das ist ein gutes Bild. Einerseits dafür, wie stark die Verhältnisse im Musikbetrieb ins Wanken geraten sind: Seit der Tonträgermarkt eingebrochen ist und schon geringe Verkäufe in den Charts erscheinen, können sich Topseller besonders schnell nach oben spielen. Andererseits landen da eben doch immer wieder die selben.

In der Musikbranche regt sich Unmut über die Methoden, mit denen die Musikindustrie von der Baden-Badener Firma Media Control die Charts erheben lässt. Bilden sie tatsächlich die Wertschätzung des Publikums ab? Sind sie für eine breitere Hörerschaft noch relevant? Es hätte nicht viel gefehlt, und die Nummer eins hieße nicht Tokio Hotel, sondern Mario Barth.

Der Comedian wollte zuletzt die Charts mit einem Trick knacken: Das Regelwerk des Bundesverbands der Musikindustrie besagt, dass jede Veröffentlichung mit 50 Prozent Musikanteil in den Musik-Charts erscheint. Also legte Barth seiner Live-CD „Männer sind peinlich, Frauen manchmal auch“ eine Bonus-CD mit Entspannungsmusik bei. Der Bundesverband der Musikindusrie befand allerdings, dass es sich hier nach den Regeln um eine Bonusbeigabe handelte – womit Barth aus den Musik-Charts fiel. Edgar Berger, Chef von Barths Plattenfirma Sony Music, empörte sich darauf nun im „Spiegel“: „Die Charts kann keiner mehr verstehen. Ich fordere eine Entrümpelung und Neugestaltung. Sonst muss man sich die Sinnfrage stellen.“ Aber diktiert denn nich Sony selbst die Regeln mit? Ja, und das hat Berger intensiv vor. „Gehen Sie davon aus, dass ich meine Meinung pointiert zur Sprache bringe“, sagte er dem Tagesspiegel. Stefan Michalk vom Bundesverband der Musikindustrie indes hält die derzeitigen Methoden für zukunftsfähig. Für Comedy gebe es zudem eigene Charts.

Seit den ersten Charts für Notenblätter in den 1890ern in den USA wurden die Erhebungssysteme an immer neue Bedingungen angepasst. Seit 2004 werden neben den Verkäufen 3000 ausgewählter Händler auch Musik-Downloads erfasst. Allerdings zählen sie weniger, weil seit zwei Jahren nicht Stückzahlen, sondern Umsätze gewertet werden – „obwohl 70 Prozent der Singleverkäufe digital sind“, wie Sony-Chef Berger klagt.

Die Zeiten sind lange vorbei, in denen allein die Hitparade im Branchenmagazin „Musikmarkt“ galt, das dieses Jahr 50 wurde. Heute analysiert Thomas Berger vom Informationsdienst Chart Report für das Magazin an die 50 verschiedene Charts. Hitlisten bieten Orientierung – für die Industrie wie für die Kunden. Vordere Platzierungen garantieren weitere Verkäufe, ein Grund, warum die Erhebung immer wieder umkämpft wird.

Die Sinnfrage, die Berger aufwirft, ist für Tim Renner von Motor Music schon beantwortet: „Die Charts sind nicht zeitgemäss, weil ihr Mechanismus mit dem Internet nicht funktionieren kann.“ Den Konsumenten interessierten zudem die neuesten Trends und die größte Nachhaltigkeit. „Beides kann man mit den Media Control Charts bestenfalls bedingt abbilden.“ Und illegale Downloads schon gar nicht. Tatsächlich haben sich im Internet Empfehlungssysteme wie „last.fm“ herausgebildet, die exakt das Hörverhalten abbilden und für Orientierung sorgen können.

Charts sind weniger kollektives Ereignis als früher. Es bleibt „Die ultimative Chart-Show“, um sich in nostalgischen Rückblicken zu ergehen. Dauergast Thomas M. Stein glaubt auch ans alte System: „Charts werden noch lange das Spiegelbild des Erfolgs eines Künstlers sein. Nur wegen Barth die Charts grundsätzlich in Frage zu stellen, halte ich für falsch.“

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