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© Igal Avidan

Nach 40 Jahren: Déjà vu

Sie waren Teenager und total verliebt. Dann brach er auf, um Israel zu verteidigen. Ein verschwundener Brief und der Mauerbau verhinderten das geplante Happy End. Eine wundersame Liebesgeschichte.

An einem Sonntag im April 1949 sitzt ein 18-jähriger Einwanderer in einem israelischen Kibbutz und schreibt an seine Freundin in Erfurt. „Es war ein glühender Liebesbrief – und eine detaillierte Anleitung“, erinnert sich Wolfgang Nossen. „Ich habe ihr mitgeteilt, an wen sie sich in Berlin wenden soll, um die Auswanderung zu organisieren.“ Denn Wolfgang Nossen hat dafür schon alles in die Wege geleitet, nur seine Freundin weiß noch nichts davon. „Nun musste ich sie dazu bringen, tatsächlich nach Israel zu kommen.“

Elisabeth Zuber, damals 20 Jahre alt, ist keine Jüdin. Und dass ihr Freund Wolfgang jüdisch ist, hatte sie auch erst im Mai 1948 erfahren. Damals wurde der Staat Israel gegründet und Wolfgang eröffnete ihr, er wolle in den Nahen Osten gehen, um das junge Land im Unabhängigskeitskrieg zu verteidigen. „Für mich bedeutete das einfach das Aus, das Ende unserer Beziehung“, sagt Elisabeth. „Aber er fragte, ob ich nicht einmal mit ihm zusammen leben wolle. Es gibt doch nichts Schöneres als junge Liebe! Also sagte ich Ja. Was denn sonst?“

Bei seiner Abreise gab Wolfgang Elisabeth das Versprechen, ihr bald mitzuteilen, wie sie nachkommen könne – und nun, im Frühjahr 1949, erfüllt er es. Dem Brief fügt er ein Bild bei, auf dessen Rückseite er notiert: „In Erinnerung an deinen Wolfgang, 17. April 1949, Israel“. Das letzte Wort schreibt er auf Hebräisch.

Auf dem Foto steht er vor einem Orangenbaum und lächelt. Aber fröhlich wirkt er nicht, eher besorgt. Er scheint zu denken: Wird sie kommen?

„Ich glaube, ich wäre den Weg gegangen“, sagt Elisabeth heute. Nur kam der Brief nie bei ihr an. Doch das weiß Wolfgang damals nicht. Er glaubt, Elisabeth erwidere seine Liebe nicht. Schlimmer noch: Sein Erfurter Freund Herbert schreibt ihm, er habe Elisabeth vor dem Kino in der Bahnhofstraße mit einem anderen Mann gesehen. Wolfgang kann es nicht fassen! Er sitzt im Kibbutz und schwelgt in Erinnerungen, denkt daran, wie er mit Elisabeth früher in den Ufa-Palast ging. Nicht, um einen Film zu sehen, sondern um ungestört Zeit mit ihr zu verbringen – dafür kauft er damals sogar gleich alle vier Karten für die Logenplätze.

Als Israels Unabhängigkeitskrieg im Juli 1949 endet, stellt Wolfgang einen Antrag auf Einreise in die Sowjetische Besatzungszone. So groß ist seine Sehnsucht. „Aber man ließ mich nicht nach Erfurt, obwohl meine Eltern und meine Geschwister dort lebten.“

Doch auch davon weiß Elisabeth nichts. Die junge Frau mit den lockigen Haaren ist traurig und enttäuscht. „Er ging mit großen Versprechungen weg, und ich wartete und wartete. Aber nichts geschah.“ Zugleich bekommt sie mit, dass der gemeinsame Freund Herbert gelegentlich Postkarten aus Israel erhält. Das findet sie erst recht „ungeheuerlich“. „Ich dachte ,Der hat dich doch veralbert’ und ging dann meinen eigenen Weg.“ Im Dezember 1950 heiratet die Lehrerin Elisabeth Zuber Joachim Erdmann, zwei Jahre darauf wird ihre Tochter Sylvia geboren.

1955 nimmt Wolfgang in Israel Ilana zur Frau, im März 1959 kommt ihr Sohn Rafael auf die Welt.

November 2009: Es ist Mittagszeit bei Elisabeth und Wolfgang in ihrer licht- und musikdurchfluteten Wohnung in Erfurt. Das Wohnzimmer ist gutbürgerlich eingerichtet: Selbst die weiße Tischdecke mit dem hellblau gestickten Blumenmuster passt zum Geschirr. Wolfgang trägt ein weißes Hemd und eine Krawatte, Elisabeth eine Plisseebluse. Sie haben die Fotoalben vorbereitet und erinnern sich abwechselnd an ihre gemeinsame Geschichte.

„Wir lernten uns 1947 in der Volkshochschule kennen. Da gingen wir jeden Abend hin“, erzählt Elisabeth. Wolfgang war damals 16, sie 18, aber beide in der gleichen Klasse. Einmal, der Englischunterricht hatte schon begonnen, ging plötzlich die Tür auf. „Und dann schien die Sonne“, erinnert sich Wolfgang – und Elisabeth lacht. „Es war natürlich sie“, erzählt er. „Sie entschuldigte sich, sagte: I’m sorry, I’m late. Und ich dachte bloß: Was macht sie denn hier? Sie kann doch schon Englisch.“

Die beiden lernen sich kennen, an den Wochenenden unternehmen sie Radtouren auf der fast leeren Autobahn oder wandern durch die Wälder, wo sie keiner beobachten kann, vor allem nicht Wolfgangs vier Schwestern. Im Oktober 1948 endet diese Zeit abrupt, aber ohne einen großen Abschied am Bahnhof, denn das Paar will diskret sein. Wolfgang reist von Thüringen zunächst nach Berlin, verbringt danach zwei Wochen in einem zionistischen Ausbildungscamp in Bayern und landet schließlich in Israel, bei Sonne und 40 Grad Hitze.

Die Familie Nossen hatte den Holocaust durch viele glückliche Zufälle überlebt, ging nach dem Ende der Nazi-Zeit nach Ostdeutschland. In Folge einer antisemitischen Kampagne in der DDR flüchtet sie 1953 in die Bundesrepublik. So wie viele andere Juden auch. Bald beginnt Wolfgang seine Familie jährlich in Nürnberg zu besuchen. Zweimal stellt er Anträge, um in Erfurt seine Nenntante Hilde und seinen Freund Herbert zu besuchen. Er erfährt, dass Elisabeth verheiratet ist, will sie aber trotzdem sehen. Die DDR verweigert ihm wieder die Einreise.

Aber Wolfgang gibt nicht auf und schlägt 1959 ein Treffen in Berlin vor. Er schreibt einen Brief an Elisabeths Mann, in dem er ihn in aller Höflichkeit darum bittet, ein Wiedersehen zu ermöglichen. Elisabeth: „Ich habe als Frau erwartet, dass mein Mann sagen würde: Da fährst du nicht hin. Er musste doch damit rechnen, dass was zwischen uns passiert.“ Wolfgang hat es da leichter, denn er lebt bereits in Trennung.

Im September 1959 steht er im Bahnhof Berlin-Friedrichstraße. „Ich sehe sie noch jetzt, wie sie im hellen Mantel auf mich zukam. Ich habe sie an mir vorbei laufen lassen, um zu gucken, ob ihre Beine noch so hübsch sind“, sagt er – und Elisabeth lacht wieder. „Wir guckten uns neugierig an, waren am Anfang verlegen, aber fanden dann schnell wieder zueinander.“

Nach drei glücklichen Tagen kommt der Abschied. Elisabeth kehrt zurück nach Erfurt. Um ihre Familie mit der mittlerweile siebenjährigen Tochter zusammen zu halten, beendet sie die Korrespondenz mit Wolfgang. Die Mauer trennt die beiden 1961 endgültig.

16 Jahre später – Wolfgang lebt mit seiner zweiten Frau und drei Kindern bereits in Nürnberg – ist er zu Besuch bei seiner Schwester. „Ich habe mir bei ihr ein Album angeschaut und plötzlich sah ich das Bild, das mich 1949 vor dem Orangenbaum zeigt“, sagt er. „Ich wusste sofort: Dieses Bild gibt es nur einmal, und wenn meine Schwester es hat, dann ist es nie bei Elisabeth angekommen. Um ganz sicher zu sein, habe ich das Foto dann aus dem Album herausgenommen und hinten draufgeschaut. Und tatsächlich stand dort: In Erinnerung an deinen Wolfgang, 17. April 1949, Israel.“

Rückblende: 1949 besuchen Heinz Galinski, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde zu Berlin, und Julius Meyer, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinden der DDR, Wolfgang Nossen und die anderen jungen Einwanderer aus Deutschland im Kibbutz. Sie nehmen ihre Briefe mit, auch Wolfgangs. Doch weil der seine Beziehung zu Elisabeth verheimlichen will, adressiert er sein Schreiben an die eigene Familie. Als der Brief dort in Erfurt ankommt, nimmt Wolfgangs Schwester das Foto heraus. Es gefällt ihr. Ohne das Bild kann sie den Brief aber nicht an Elisabeth weitergeben. „Also warf sie ihn einfach weg“, erzählt Wolfgang.

1984 lässt sich Wolfgangs dritte Frau von ihm scheiden. Beruflich fährt er jetzt öfter nach West-Berlin. „Am Hermsdorfer Kreuz sah ich jedes Mal die Abzweigung nach Erfurt und dachte: Nur 70 Kilometer, in einer Stunde wäre ich da!“

Im Frühjahr 1989 beantragt Wolfgang ein Visum für die DDR. Er will am 21. November mit Tante Hilde ihren 81. Geburtstag feiern. Diesmal erhält er die Einreisegenehmigung. Am 20. November 1989, die Mauer ist schon gefallen, kehrt er zum ersten Mal seit vier Jahrzehnten nach Erfurt zurück. Sein Freund Herbert, bei dem er übernachtet, fragt ihn: Hast du Elisabeth angerufen? Im Telefonbuch aber ist keine Elisabeth Erdmann verzeichnet und der Vorname ihres Mannes fällt Wolfgang nicht mehr ein. Er fragt bei der Polizei nach: Eine Frau dort findet seine Geschichte romantisch. Sie kann ihm zwar auch nicht helfen, rät ihm aber, alle Erdmanns im Telefonbuch anzurufen.

Am 24. November 1989, 40 Jahre nachdem sein Brief mit erheblichen Folgen in falsche Hände geriet, beschließt er, sich dieses Mal nur auf sich selbst zu verlassen. „Und dann habe ich das Telefonbuch genommen und einfach den ersten Erdmann, bei dem kein Frauenname dabei stand, angerufen“, sagt er. „Und bum war sie am Telefon!“

Elisabeth: „Du wolltest fragen, ob Elisabeth Erdmann am Telefon ist. Aber du hattest noch gar nicht zu Ende gesprochen, da habe ich schon gesagt: Wolfgang, das bist doch du!“

Wolfgang: „Und dann hat sie gar nicht begriffen, dass ich in Erfurt bin. Von so weit rufst du an, hat sie sagt. Da habe ich geantwortet: Ja, ganze zwei Kilometer bin ich entfernt! Und sie fragt: Wieso bist du dann noch nicht hier?“

Elisabeth backt eine Himbeertorte mit Schlagsahne und deckt den Kaffeetisch für drei Personen. Joachim Erdmann kommt später und setzt sich fünf Minuten zu ihnen, er ist längst von seiner Frau getrennt, die Scheidung läuft bereits. „Am Abend habe ich sie in die Oper entführt“, erzählt Wolfgang Nossen. Sie sehen Fidelio, Beethovens Befreiungsoper.

Eine Weile fährt Wolfgang immer wieder nach Erfurt, dann zieht Elisabeth bei ihm in Nürnberg ein. Aber sie wird nicht heimisch im Westen. Im März 1991 ist das Paar zurück in Erfurt. Über die jüdische Gemeinde bekommt Wolfgang eine Wohnung. Seit 1995 ist er Vorsitzender der Gemeinde.

Am 24. November werden Wolfgang und Elisabeth feiern. Den 20. Jahrestag ihres Wiedersehens. Ihre ganz private Wiedervereinigung.

Igal Avidan

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