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Nach dem Erdbeben: Schicksal eines Jungen rührt die Türkei

Der achtjährige Keko verlor bei dem Erdbeben in Ostanatolien seine Mutter und seinen Bruder und wurde selbst verletzt. Nun kam er aus dem Krankenhaus zurück in sein Dorf – und suchte in den Trümmern weinend nach seiner Mutter.

Es ist ein Wunder, dass Keko noch lebt. In der Nacht zum Montag dieser Woche schlief der achtjährige Junge aus dem südostanatolischen Dorf Okcular mit seiner Mutter Ayten Cicek und seinem kleinen Bruder Emre in ihrem aus Lehm und Steinen gebauten Haus. Kurz nachdem gegen Morgen die Erde bebte und das Haus einstürzte, wurde Keko als einziger Bewohner lebend aus den Trümmern gezogen. Mutter und Bruder waren von Steinen und Holzbalken erschlagen worden.

Die Ciceks sind arme Leute, wie die meisten in Okcular. Kekos Vater Mehmet Ali musste sich Arbeit im fernen Hamburg suchen, um die Familie zu ernähren. Denn als Bauern kommen die Ciceks schon lange nicht mehr über die Runden: Wegen des Kurdenkrieges sind die Hochweiden für die Kühe zu militärischen Sperrgebieten erklärt worden. Für die Ciceks reichte es deshalb nur noch für ein paar Stück Vieh, die in einem Stall im Erdgeschoss des Hauses gehalten wurden. Die Familie wohnte und schlief im ersten Stock. Bis zum Montagmorgen.

In anderen erdbebengefährdeten Ländern wie Japan oder Taiwan geschieht bei einem Beben der Stärke 6,0 nicht viel. Nur wenige Tage vor dem Beben in Okcular war der Süden Taiwans von einem Beben der Stärke 6,4 erschüttert worden. Mehrere Menschen wurden verletzt. In Südostanatolien starben 41 Dorfbewohner, weil sie in schlecht gebauten Häusern wohnten wie die Ciceks. Rund 2000 Häuser in der Gegend sind unbewohnbar.

Die Gefahr für die Menschen ist allen Verantwortlichen längst bekannt, doch die Türkei versagt bei der Durchsetzung besserer Standards. Selbst in der erdbebengefährdeten Metropole Istanbul dürften zehntausende schlampig gebaute Wohngebäude zu Todesfallen werden, wenn das von Experten irgendwann in den kommenden Jahren erwartete Beben über die 12-Millionen-Stadt hereinbricht. "Verzeih uns, Keko", titelte eine Zeitung am Donnerstag.

Der Junge wusste zunächst nicht, wie es um seine Familie stand. Nachdem er von einem Verwandten aus dem zerstörten Haus befreit wurde, kam er mit leichten Verletzungen für zwei Tage in ein nahes Krankenhaus. Dass seine Mutter und sein Bruder tot sind, erfuhr Keko erst am Mittwoch bei seiner Rückkehr ins Dorf. Sein Schmerz und seine Verzweiflung ließen nicht nur die Hilfskräfte und Überlebenden im Dorf in Tränen ausbrechen. Sein Schicksal rührt das ganze Land.

"Meine Mutter ist hier", rief der Junge und kroch weinend in die Trümmer seines Elternhauses. Eine Mitarbeiterin des Roten Halbmonds stieg Keko nach, redete auf ihn ein und lockte ihn schließlich mit einem blauen Gummihandschuh, den sie wie einen Luftballon aufgeblasen hatte, wieder aus dem Schutthaufen. Auf dem Dorffriedhof warf sich Keko auf das frische Grab von Mutter und Bruder, küsste den notdürftig errichteten Grabstein und betete. Kekos Vater reiste inzwischen aus Deutschland nach Okcular und schloss seinen Sohn in die Arme. "Jetzt lasse ich dich nicht mehr allein", sagte er dem Jungen.

Die Ciceks sind nur eine Familie von vielen, deren Leben zerstört wurde. Der Familienvater Abdülkadir Demirtas aus dem Nachbardorf Teke, der in einem ähnlichen Haus wie die Ciceks vier seiner sechs Kinder verlor, konnte unmittelbar nach dem Beben noch mit seinem 12-jährigen Sohn Fuat sprechen, der verletzt unter den Trümmern eingeklemmt war. Er hielt Fuats warme Hand, doch er konnte den Jungen nicht befreien. Nach zwei Stunden war Fuats Hand kalt. Jetzt sieht Demirtas seine toten Kinder im Traum, wie er der Zeitung "Yeni Safak" sagte: "Papa, warum rettest du mich nicht?" fragt seine 18-jährige Tochter Özlem, die bei dem Beben ebenfalls umkam.

Unterdessen verspricht die türkische Regierung, die beim Beben zerstörten Häuser würden erdbebensicher wieder aufgebaut. Doch großes Vertrauen der Bürger in den Staat ist möglicherweise fehl am Platz. Schließlich hielten auch die - staatlich errichteten - Schulgebäude in den Erdbebendörfern dem Beben nicht stand. Schlampig gebaut, schlechtes Material, lautete das Urteil eines von der Presse zitierten Sachverständigen. Wenn es um den schönen Schein geht, sind die Behörden dagegen auf dem Posten: Kurz vor dem Besuch von Ministern aus Ankara wurden im Erdbebengebiet in aller Eile einige Straßen asphaltiert.

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