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Jährlich gibt es 12 000 Ermittlungen wegen Kindesmissbrauchs.

© J. Stratenschulte/dpa

Nach dem Fall Staufen: Im Kampf gegen Kindesmissbrauch bleibt viel zu tun

Immer wieder erschüttern grausame Missbrauchsfälle das Land. Auch nach dem Urteil im Staufener Missbrauchsprozess klagen Experten, dass der Staat noch immer zu wenig tut.

Für Johannes-Wilhelm Rörig ist mit diesem Urteil noch nichts erledigt. Die Haupttäter im Fall Staufen sind zu hohen Strafen verurteilt worden, aber noch immer sind viele Punkte ungeklärt. „Es gab offensichtlich strukturelle Probleme im Zusammenspiel von Gerichten und Behörden, die umfassend untersucht und aufgearbeitet werden müssen“, sagt der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Missbrauchs. „Es geht um grundlegende Fragen der Zusammenarbeit und personellen Ausstattung von Gerichten und Behörden im Kampf um das Kindeswohl.“

Ein Familiengericht in Freiburg hatte im Fall Staufen versagt. Rörig will wissen, wie es sein könne, „dass man heute schon nach einem Jahr als Richter auf Probe Familienrichter werden kann?“ Familien seien ein hochsensibler Punkt, da benötige man Erfahrung. „Früher musste man dafür Richter auf Lebenszeit sein.“ Rörig spricht als Experte, er hat selbst fünf Jahre als Richter gearbeitet. Seit 2010, als der Skandal um die Missbrauchsfälle im Berliner Canisiuskolleg öffentlich bekannt wurde, ist Missbrauch stärker in den Fokus der Gesellschaft gerückt. Es gibt Kommissionen, Menschen sind sensibler geworden, Opfer melden sich, es gibt ein Opferentschädigungsgesetz und eine Hotline für Opfer sexuellen Missbrauchs (0800-2255530, kostenlos und anonym).

Diese Aufmerksamkeit ist dringend nötig. Mehr als eine Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland sind nach Einschätzung von Experten Opfer von sexueller Gewalt. Jährlich gibt es rund 12 000 Ermittlungs- und Strafverfahren wegen Missbrauchs von Minderjährigen.

Kirchen wollen glänzende Fassade bewahren

Oberflächlich betrachtet, gibt es also viele positive Entwicklungen. Doch wenn man sich Details anschaut, wenn man mit Opfern redet oder mit Experten wie Rörig, dann klingt die Situation ernüchternd und frustrierend, dann bekommt man das Gefühl, es habe sich wenig bis nichts geändert.

In Berlin fand im Juni ein Hearing zum Thema „Kirchen und ihre Verantwortung zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ statt. Opfer erzählten von ihren Erfahrungen, Experten präsentierten ihre Analysen. Das Fazit: Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche drückten sich vor ihrer Verantwortung. Opfer hätten keine oder nur wenige Ansprechpartner, Täter erfuhren nur geringe berufliche Konsequenzen, führende Kirchenvertreter bezeichneten Missbrauchsvorwürfe als Teil einer Kampagne. Heiner Keupp, Mitglied der „Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs“, sagte, den Kirchen gehe es darum, „dass ihre glänzende Fassade bewahrt bleibt“.

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Der Staat tut auch zu wenig, sagt Rainer Becker, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe. „Kinderschutz kann nicht funktionieren, wenn man spart.“ In unterbesetzten Jugendämtern können Mitarbeiter selbst bei akuten Fällen nur mit Mühe eingreifen Das Opferentschädigungsgesetz ist gut gemeint, erzeugt aber oft eher Frust als Erleichterung. Betroffene beklagen die lange Verfahrensdauer. Oder ihnen fehlen sachkundige Begleiter bei ihren Anträgen. Nicht selten erscheinen ihnen die Anforderungen für eine Entschädigung als sehr hoch. Gerichtsverfahren dauern häufig monatelang bis die Täter verurteilt sind. Für Opfer eine Zeitspanne psychischer Qual.

Ermittler sind frustriert

Der Sport ist zwar aufgewacht, viele Vereine haben Ansprechpartner für Hinweise auf Missbrauch. Nur: Gleichzeitig schauen viele Vereine nicht so genau hin, wer auf ihrem Platz arbeitet. Sie sind froh, dass sie überhaupt Trainer haben. Letztlich sind auch die Ermittler in Missbrauchsfällen frustriert. Sie erhalten zwar viele Hinweise auf mutmaßliche Täter und Taten aus dem Ausland – allein aus den USA trafen 2017 insgesamt 35 000 solcher Hinweise bei der deutschen Polizei ein. Hierzulande können diese aber oft nicht weiterverfolgt werden, weil die Vorratsdatenspeicherung ausgesetzt ist. Für Holger Münch, den Präsidenten des Bundeskriminalamts, ist das „schwer erträglich“.

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