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Geschlechterrollen sind nicht immer eindeutig. Conchita Wurst mit Bart und Perücke nach ihrem Sieg in Kopenhagen.

© dpa

Nach dem Sieg von Conchita Wurst: Ist Geschlecht angeboren oder anerzogen?

Conchita Wurst errang einen symbolischen Sieg für Toleranz und Emanzipation in Europa. Und für Vielfalt. Das Spiel der Geschlechter wirft einen Streit in der Wissenschaft auf. Ist Geschlecht angeboren oder anerzogen?

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Das Spiel der Geschlechter, für das Conchita Wurst bei ihrem Sieg beim Eurovision Song Contest stand, wirft erneut eine Frage auf, die heftig debattiert wird: Ist das Geschlecht angeboren oder anerzogen?

Es ist nicht alles Wurst

Der Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest steht für einen Siegeszug der Toleranz und der Emanzipation in Europa. Sie hatte ihren Künstlernamen damit begründet, dass es ihrer Meinung nach Wurst sei, welche sexuelle Orientierung jemand habe. Ihr Sieg steht auch für einen Trend, bei dem vieles unübersichtlich geworden ist. Mit dieser Unübersichtlichkeit und Vielfalt können viele nicht gut umgehen, das betrifft nicht nur russische Politiker. Die klare Geschlechtertrennung zwischen Mann und Frau wurde in den letzten 40 Jahren immer stärker aufgeweicht. Was mit der Emanzipationsbewegung der Lesben und Schwulen begann, fand auf der populären Ebene seine Fortsetzung in immer häufigeren Auftritten von Travestiekünstlern oder Menschen, die sich als Transgender bezeichnen. Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau fühlen, oder beides in unterschiedlichem Maße in sich vereinen, werden immer stärker zum Gegenstand der Forschung, aber auch der Politik. Dabei wird auch ein Kampf um Begriffe geführt. Wer „Lesben- und Schwulenbewegung“ sagt, outet sich fast als gestrig, längst haben andere Begriffe und Abkürzungen ihren Siegeszug angetreten. „LGBT“ war eine Zeit lang der neueste korrekte Begriff. Er war die Abkürzung von lesbisch, schwul, bisexuell und transgender (abweichend von Geschlechterrollen).

Neue Unübersichtlichkeit der Geschlechterrollen

Dann beklagten Aktivisten in New York, dass sie ausgegrenzt würden. „LGBTQIA“ hieß die neue Erweiterung. Sie schloss auch jene Menschen mit ein, die sich als „queer“, das heißt von heteronormativen Regeln abweichend, „questioning“, infrage stellend, Intersex und Ally (Verbündete) bezeichneten. Zudem melden sich Asexuelle, Pansexuelle und BDSM-Leute zu Wort, Letztere hängen Praktiken nach, die früher unter dem Begriff Sadomasochismus geführt wurden, was man aber heute nicht mehr sagt. Und ja, es melden sich jetzt sogar Heterosexuelle zu Wort, die nicht diskriminiert werden wollen, weil sie polygam veranlagt sind.

Unübersichtlich ist aber auch die politische Gefechtslage geworden. Da gibt es einerseits noch die Ewiggestrigen, die lautesten unter ihnen sind russische Politiker und die Regierung in Moskau. Auch im Westen gibt es sicherlich noch viele, die ähnlich denken, sie trauen sich aber kaum, sich öffentlich zu äußern. Welcher Politiker möchte schon als reaktionär oder gestrig gelten.

Ist Geschlecht angeboren oder anerzogen?

Geschlecht ist ein großes Thema an Universitäten und in der Politik. Was ist ein Geschlecht? Woher kommt es? Es gibt eine heftige Debatte, ob das Geschlecht eines Menschen biologisch oder kulturell bestimmt wird. Simon Baron-Cohen vom Autismus-Forschungszentrum im englischen Cambridge hat zum Beispiel festgestellt, dass Mädchen bereits am ersten Tag nach ihrer Geburt deutlich häufiger auf ein lächelndes Gesicht als auf ein Mobile schauen. Bei Jungen ist es genau umgekehrt. Dieser Unterschied könnte mit dem männlichen Geschlechtshormon Testosteron zusammenhängen, das bei Mädchen und Frauen normalerweise in viel geringeren Konzentrationen als bei Jungen und Männern vorkommt. „Je mehr Testosteron vor der Geburt in der Gebärmutter vorhanden ist, umso seltener suchen die Kinder noch im Alter von einem oder zwei Jahren Augenkontakt mit anderen Menschen“, erklärt Simon Baron-Cohen. Dieser Blick in die Augen ist aber für soziale Beziehung sehr wichtig – Mädchen zeigen also schon früh ihr Interesse an sozialen Kontakten. Beide Geschlechter haben von Geburt noch weitere spontane Vorlieben: Jungen sind in der Regel unternehmungslustiger, erkunden ihre Umgebung eifriger und setzen sich energischer durch als Mädchen. Während Jungs später schon einmal miteinander raufen, neigen Mädchen viel lieber dazu, persönliche Beziehungen aufzubauen und sorgen sich auch um ihre Kolleginnen im Kindergarten oder in der Schule. Dafür aber muss man sich in die Gefühle anderer Menschen hineinversetzen. „Diese Empathie aber zeigen Kinder viel weniger, wenn sie schon im Mutterleib viel Testosteron ausgesetzt waren“, sagt Simon Baron-Cohen.

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Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte

„Das Erbgut gibt solche Eigenschaften zwar vor, die Erziehung aber formt sie weiter“, sagt Doris Bischof-Köhler. Dabei können die Eltern die angelegten Eigenschaften relativ gut verstärken. Deutlich schwerer ist es dagegen, vorhandene Eigenschaften umzuerziehen. So können Jungen zu noch mehr Fürsorge angeleitet werden und Mädchen können Verhaltensweisen lernen, mit denen sie sich besser durchsetzen können. Unsinnig sind in diesem Zusammenhang also nur die jeweiligen Extremposition: Weder ist die Erziehung allein für alle Verhaltensweisen verantwortlich, noch sind männliche und weibliche Rollen ausschließlich angeboren. „Wie so oft liegt die Wahrheit in der Mitte, Erziehung und Erbeigenschaften spielen gemeinsam eine wichtige Rolle“, erklärt Doris Bischof-Köhler.

Dadurch ist natürlich auch eine große Vielfalt von Eigenschaften, Verhaltensweisen und geschlechtlichen Gefühlen möglich. Bis hin zu Travestiekünstlern wie Conchita Wurst.

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