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© EPA

Nach der Erdbeben-Katastrophe: Haiti: Kampf bis aufs Messer

Port-au-Prince: Bewaffnete Banden, Ausschreitungen, Plünderungen und Lynchmorde – die Lage droht zu kippen.

Port-au-Prince - Sie ziehen plündernd durch die Straßen, schwingen ihre Macheten, zücken ihre Messer – es sind erschreckende Bilder, die aus den Straßen von Port-au-Prince in die Welt gesendet werden. Bei den Plünderungen muss ganz offensichtlich unterschieden werden zwischen einfachen Menschen, die verzweifelt nach Nahrung suchen und sie sich nehmen, wenn sie welche finden, und andererseits den Banden von jungen Männern, die marodierend durch die Stadt ziehen, ein Klima der Gewalt verbreiten und sich auch untereinander bekämpfen. Und schließlich gibt es die Bilder von totgeschlagenen Plünderern in den Straßen, Opfer von Lynchjustiz. Offenbar haben Bewohner das Recht in die eigene Hand genommen. Und dazwischen immer wieder einzelne Polizisten, die auf die Banden schießen, versuchen, die Lage unter Kontrolle zu halten. Droht ein kompletter Zusammenbruch der Zivilisation?

Es ist schwer, sich ein genaues Bild von der Lage zu machen. Die Berichte sind sehr verschieden. Nur wenige Berichterstatter können in die umkämpften Straßen vordringen. Die Welthungerhilfe versuchte noch am Montag zu beschwichtigen. Die Lage sei nicht von Gewalt geprägt, hieß es in einer Erklärung. „Die Sicherheitslage ist erstaunlich ruhig, Plünderungen kommen nur sehr vereinzelt vor“, sagte der Regionalkoordinator der Organisation in Haiti, Michael Kühn. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) sah da die Lage schon anders. Gewalt und Plünderungen nähmen zu, hieß es in einer Erklärung. Ursache sei die Verzweiflung der Menschen.

Nach Angaben der Polizei von Port-au-Prince wurde in verschiedenen Teilen der Millionenstadt geschossen. Die Polizei hielt Menschen davon ab, in die Innenstadt zu gehen. Ein Polizeibeamter sagte einer Reporterin der Deutschen Presse-Agentur dpa: „Sie schießen auf jeden, Journalisten, Polizisten.“ Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ berichtete gestern abend, dass ihre Ärzte mehrere Personen mit Schussverletzungen behandeln. Reuters-Korrespondenten berichteten von mehreren Lynchmorden. In einem Fall setzten wütende Anwohner einen Mann in Brand, der nach ihrer Schilderung beim Stehlen erwischt worden war. In einer anderen Straße lagen die Leichen zweier junger Haitianer, deren Arme auf den Rücken gefesselt waren. Ihre Körper wiesen mehrere Schusswunden auf. Auch hier soll es sich um Selbstjustiz gehandelt haben. „Die Haitianer nehmen die Dinge nun teilweise selbst in die Hand“, sagte der Anwohner Eddy Toussaint. „Es gibt keine Gefängnisse, die Kriminellen laufen frei herum. Und von der Polizei fehlt jede Spur.“

Die explosive Lage ist wohl auch der Grund dafür, dass die Regierung Haitis den Ausnahmezustand ausgerufen hat. Die Regierung bat die USA, für die Sicherheit in Haiti zu sorgen und beim Wiederaufbau zu helfen. Bei  Menschenrechtlern stößt das auf Kritik. „Die Hilfsmissionen drohen zu militärischen Stoßtrupps zu werden; die Hilfe wird militarisiert“, sagte der US-Menschenrechtler Brian Concannon jr., Direktor des „Instituts für Gerechtigkeit und Demokratie in Haiti“, dem „Neuen Deutschland“. Die haitianische Gesellschaft sei sehr friedfertig.

Auch in den wohlhabenden Vierteln bewaffnen sich Bewohner. „Bekämpfe die Kriminalität – schieß zuerst“. Der Spruch auf einem Auto lässt kaum Zweifel an den Absichten des Fahrers. Viele haben schon ihre Waffen griffbereit. In einem Land, wo auch in normalen Zeiten niemand auf die Idee gekommen wäre, bei einem Überfall die Polizei zu rufen, gehörten Waffen schon vor dem Beben zur Grundausstattung. Während die Menschen aus Furcht vor Nachbeben oder weil ihr Haus zerstört ist, im Freien campieren, horchen sie verschreckt auf nächtliche Schießereien. Über Stunden peitschen Schüsse durch die Dunkelheit. Niemand weiß, wer sie abgibt und wem sie gelten. Tagsüber ziehen die vielen herumirrenden Menschen immer hastiger durch die Stadt. Sie sind schweigsamer geworden und vermeiden Blickkontakt, Anzeichen einer steigenden Spannung und Angst. In Laboulle, einem wohlhabenden Wohnviertel, sind die Waffen, die sich in jedem Haushalt befinden, bereits gereinigt und geölt. Und durchgeladen. Tsp/dpa/AFP/rtr

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