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Bereit zum Gesang. Ein Zikadenmännchen ist gerade frisch geschlüpft. Die Larven dieser Zikadenart saugen 17 Jahre lang an Baumwurzeln, ehe sie schlüpfen.

© John Pryke/Reuters

Naturschauspiel: Wildnis in Washington

Alle 17 Jahre fallen Zikadenschwärme über die amerikanische Hauptstadt her – das wird laut. Manche finden den Sound schön. Andere tun sich schwer mit Millionen Insekten in der Luft.

Für die meisten Bewohner der amerikanischen Ostküste sind der Mai und der Juni die schönste Zeit des Jahres. Die Natur entfaltet sich in farbenfroher Pracht: Azaleen, Rhododendren, Flieder, Magnolien und viele andere Augenweiden erblühen und füllen die Luft mit süßlichem Duft. Abends trägt das Zirpen der Grillen zu einem subtropischen Lebensgefühl bei. Die schwüle Sommerhitze, die den Juli und August ohne Klimaanlage ziemlich unerträglich macht, liegt noch fern. Klimageografisch befindet sich Washington auf Höhe der Stiefelspitze Italiens und New York auf der Höhe Neapels. Der Juni erfreut mit einem weiteren Schauspiel: Unzählige Glühwürmchen tanzen über den Rasenflächen.

Alle 17 Jahre kommt in der zweiten Maihälfte in dem rund 600 Kilometer langen Korridor zwischen Connecticut und Virginia auch tagsüber ein besonderer Ohrenschmaus hinzu. Dann kriechen Millionen Zikaden aus ihren unterirdischen Quartieren, in denen sie gut anderthalb Jahrzehnte auf ihren Ausflug ans Tageslicht gewartet haben. Mit lautem Lärmen werben die Männchen um die Aufmerksamkeit der Weibchen. Sie benutzen dazu spezielle Trommelorgane an ihrem Hinterleib. In der Summe kann ein Zikadenschwarm Lautstärken von rund hundert Dezibel erreichen. Ältere Bewohner der Ostküste, die die Zikadeninvasion schon mehrfach erlebt haben, vergleichen den Lärm mit dem Geräusch eines landenden Propellerflugzeugs. Oder den Schlagzeugübungen pubertierender Jugendlicher.

Für die Zikadenmännchen endet die Paarung wenig später mit dem Tod. Die Weibchen legen mehrere hundert befruchtete Eier in Baumrinden ab. Aus ihnen schlüpfen nach sechs bis zehn Wochen Larven, die zur Erde fallen und sich eingraben. Sie leben von Wurzelsäften im Boden – bis 17 Jahre später der Kreislauf von Neuem beginnt. Die Hintergründe dieses seltsamen Fortpflanzungsverhaltens sind den Forschern weitgehend ein Rätsel. Zudem gibt es Unterschiede zwischen den Zeitintervallen bei den verschiedenen Zikadenpopulationen. Im nördlichen Bereich der Ostküste sind es 17 Jahre, weiter südlich 14 Jahre. Die Schwärme fallen auch nicht in alle Regionen der Ostküste gleichzeitig ein, sondern zeitlich versetzt. Die einzelnen Zikadenvölker haben ihre eigenen Jahre und Bezirke, wo sie an die Oberfläche kommen. Dort taucht in den Zwischenjahren aber kein anderer Schwarm auf. Die Forscher haben sie mit römischen Zahlen durchnummeriert.

2013 ist „Brut II“ aktiv. Ihre Schwerpunkte liegen in Ost-Pennsylvania, Süd- Maryland und einem schmalen, langgestreckten Nord-Süd-Streifen in Zentral- Virginia, der auch die Grenze zu Washington DC abdeckt. Zuletzt wurde „Brut II“ 1996 gesichtet, das nächste Mal wird sie 2030 erwartet. „Brut I“ war 1995 und 2012 im Westen Virginias und in einem kleinen Südwestzipfel des Staates aktiv. „Brut X“ bedeckte 2004 große Flächen in der Mitte Marylands und im Südosten Pennsylvanias. Sie wird erst 2021 und 2038 erneut zu sehen sein. „Brut V“ (1999, 2016, 2033) beschränkt sich auf den Nordwesten des Bundesstaats West Virginia.

Seit Tagen bereiten sich viele Menschen auf die Invasion von „Brut II“ vor: die meisten in erwartungsvoller Faszination; einige in kulinarischer Vorfreude, weil sie geröstete Zikaden als Delikatesse schätzen; manche gemischt mit leichten Ekelgefühlen – und eine kleine Minderheit mit Anzeichen von Panik. Unzählige Fans melden ihre Beobachtungen, wo sie Zikaden gesichtet haben, an die Internetseite www.magicicada.org. Die Insekten sind harmlos und ungiftig. Sie stechen nicht. Sie sind auch keine biblische Landplage, die überall die Blätter wegfrisst. Wo sie auftauchen, dominieren sie freilich vorübergehend das Leben. Sie kommen in solchen Massen, dass sie den Menschen in die Haare fliegen oder man es kaum vermeiden kann, auf sie zu treten.

Manche Anwohner bekommen dabei Horrorgefühle, zum Beispiel Yamile Garcia aus Baltimore. Sie leidet unter „Zikaden-Phobie“. Kurz vor der letzten Invasion in ihrem Wohngebiet hatte sie geboren. Als sie mit dem Baby zum Arzt sollte, konnte sie sich 20 Minuten lang nicht überwinden, aus dem Auto auszusteigen, weil die Luft von den Insekten schwirrte und sie sich vor dem Geräusch ekelte, falls sie auf dem kurzen Weg vom Parkplatz zum Praxiseinsatz auf eines der Insekten träte.

Lokalzeitungen an der Ostküste berichten von Amerikanern, die vorsorglich „Telearbeit“ von zu Hause über sichere Internetverbindungen mit ihren Firmen vereinbart haben. Sie decken sich auch mit Lebensmittelvorräten ein, um ihre Wohnungen während der „Plage“ nicht verlassen zu müssen.

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