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Panorama: Neue Offenheit bringt alte Krankheiten

Die Syphilis, einst fast ausgerottet, breitet sich in China rasant aus

Das medizinische Fachjournal „The Lancet“ berichtet in seiner neuen Ausgabe, die Zahl der Syphilis-Erkrankungen habe sich in China seit 1993 um mehr als das 25-Fache erhöht. 2005 litten pro einer Million Einwohner 51 Menschen unter der ansteckenden Geschlechtskrankheit. Als Grund für die Ausbreitung des Erregers vermuten die Forscher veränderte Sexualgewohnheiten in China.

„Syphilis ist mit aller Macht nach China zurückgekehrt. Die Daten deuten auf eine Syphilis-Epidemie von einer solchen Größe und Stärke, dass es enorme Anstrengungen erfordern wird, dort einzuschreiten“, sagte der Forschungsleiter Myron S. Cohen vom Zentrum für Infektionskrankheiten an der Universität North Carolina der Nachrichtenagentur Reuters. Sein Bericht bezieht sich auf Daten, die von chinesischen Gesundheitsbehörden in den Provinzen erhoben wurden.

Syphilis der ersten und zweiten Krankheitsstufe (insgesamt gibt es drei Stufen) sei demnach in China doppelt so verbreitet wie in den USA. Besonders alarmierend ist nach Ansicht der Forscher die rasante Zunahme der Ansteckungen bei Geburten. Dabei geben infizierte Mütter die Krankheit an ihr neugeborenes Kind weiter. Die Fallzahl dieser sogenannten Syphilis connata stieg zwischen 1991 und 2005 um fast 72 Prozent.

Als Grund für die rasante Ausbreitung des Erregers vermuten die Forscher die sozialen Veränderungen, die Chinas wirtschaftliche Öffnung nach sich gezogen hat: In jeder chinesischen Stadt gibt es heute Bordelle und Rotlichtviertel, in denen Prostituierte vom Land Geschäftsleute und Wanderarbeiter bedienen. Oft werden die Bordelle von der lokalen Polizei geführt. Auch das Verhältnis zum Sex hat sich verändert: Pekinger Schüler haben heute im Durchschnitt mit 15 Jahren zum ersten Mal Geschlechtsverkehr – ihre Eltern durften sich in diesem Alter nicht einmal küssen. „Die neue Generation ist wirklich sehr offen beim Sex“, sagt Professorin Zhang Meimei von der Pekinger Shifan-Universität. Ein Faktor für die rasche Ausbreitung des Erregers, der mit Antibiotika behandelt werden kann, sei zudem die schlechte Gesundheitsversorgung, heißt es in dem Bericht weiter.

Bei der Gründung der Volksrepublik 1949 herrschte in China eine der schlimmsten Syphilis-Epidemien in der Geschichte der Menschheit. Die Kommunisten ließen alle Bordelle schließen und propagierten in den kommenden Jahrzehnten einen prüden Lebensstil. In den 60er Jahren galt die Syphilis, die zu Geschwüren, Ekzemen und Schädigungen des zentralen Nervensystems führen kann, als nahezu ausgerottet. Erst mit der gesellschaftlichen Öffnung tauchten Mitte der 80er Jahre wieder die ersten Fälle der „Weidenblütenkrankheit“, wie Syphilis in China auch genannt wird, auf.

Weil die Syphilis zwei Jahrzehnte kaum existent war, fehle den meisten Chinesen die natürliche Immunität gegen die Krankheit, heißt es in dem Bericht. „Sexuell aktive Personen sind komplett empfänglich für die Ansteckung“, schreiben die Forscher. Ihrem Bericht zufolge erhöht sich damit auch die Ansteckungsgefahr für Aids. Syphilis führe leichter sowohl zu einer Übertragung als zur Ansteckung mit dem HI-Virus.

Harald Maass[Peking]

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