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Panorama: New York: "Menschenskind, es gibt dich noch"

Dienstagnacht, 21.45 Uhr.

Dienstagnacht, 21.45 Uhr. Im Fernseher läuft das heute-journal. Der Bildhauer Fritz Koenig sitzt im Wohnzimmer, auf der Mattscheibe flimmern Szenen, die ihn schlagartig elektrisieren: Er habe "kurz aufgeschrieen" und mit Alarmstimme seiner Frau Maria gerufen: "Mensch, die Kugel isch do!"

Zum Thema Online Spezial: Terror gegen Amerika Militärische Reaktionen: Die Vorbereitungen auf einen Gegenschlag Osama bin Laden: Amerikas Staatsfeind Nummer 1 Fahndung: Der Stand der Ermittlungen Rettungsarbeiten: Die Suche nach den Verschütteten Fotos: Die Ereignisse seit dem 11. September in Bildern Der 77-Jährige hatte in der ZDF-Nachrichtensendung aus meterhohen Trümmern des World Trade Center seine berühmte Skulptur "Große Kugelkaryatide" schimmern sehen. Beziehungsweise sah er, was von der 7,64 Meter hohen Bronze übrig geblieben ist. "Die Kugel ist kaputt, der Schädel zerfetzt und demoliert, steht aber in unglaublicher Haltung da." Sein erster Gedanke sei gewesen: "Menschenskind, es gibt dich noch!", schildert der Künstler. Man hört ihm die Aufregung an. Nach dem Attentat auf die Zwillingstürme am 11. September glaubte der im niederbayerischen Ganslberg lebende Professor die Arbeit, die ihm einst internationalen Ruhm verschaffte, für immer verloren: "Ich hatte Abschied genommen."

Verstörende Todesvision

Andererseits fahndete er seit dem Terrortag unruhig auf Bildern vom Schauplatz des Verbrechens nach Zeichen seiner Skulptur. "Ich suchte seitdem immer im Schutt." Mehr noch: Er zitterte dem Moment entgegen, an dem Reste ans Tageslicht kommen könnten. Nach einem Artikel im Tagesspiegel (23. September 2001) hatte sich bei Koenig ein Informant gemeldet, der auf amerikanischen TV-Aufnahmen Reste der Monumentalplastik gesehen haben wollte. Nun erkannte er selbst: Die Kugel sei zwar "tödlich getroffen, jedoch erkennbar in ihrer Gestalt", ein Wunder fast, romanhaft, da sie im Verhältnis zu Größe und Volumen nur über eine "eierschalendünne" Haut verfügt. Die Sequenz zeigte ihm überdies, dass am Ort des Geschehens von der sonstigen Bebauung nichts als Gerippe stünden. Koenig war der Überzeugung, sein Werk könne nie und nimmer unversehrt aus dem Inferno hervorgehen, einem Feld des Schreckens, zwischen tausenden Tonnen Eisenträgern, Beton und Geröll. Ganz zu schweigen davon, dass der sonst von 200 000 Passanten täglich frequentierte Platz das Grab unzähliger Menschen ist. Schon wegen der Dimension des Unglücks entschied Fritz Koenig: "Ich habe keinen Anspruch auf ein Glücksgefühl."

Am Mittwoch hatte der Bildhauer nun die ersten Farbfotos vom Ort des Dramas in Händen. Spürbar am Rande des ihm Möglichen, betrachtete er sie "einigermaßen fassungslos", nein, er studierte sie atemlos. Denn in diesen Tagen "fürchte ich mich ein bisschen vor mir selber" - eingeholt von alten Ahnungen. Wie berichtet, drückte die 1972 am Hudson installierte "Große Kugelkaryatide" von Anfang an mindestens Zwiespältiges aus, plastisch ausgedrückt mit einem Zyklopenauge, welches den Blickfang der Schädelkalotte bildete. Der bald zum beliebten Postkartenmotiv aufgestiegenen Figur war eine Vorahnung eingeschrieben, eine Leidensmiene, über die Koenig bis zum Terrortag selbst nie sprach. Indem er den Monumenten des Wachstums eine verletzliche Physiognomie hinzufügte, mißtraute er in einem übergeordneten Sinne der Suggestion von Stabilität und Riesenwuchs. Sein Werk handelte von der Begrenztheit der Dinge. Die unvorstellbaren, himmelsstürmenden 420-Meter-Gebäude schickten sich an, sich über diesen Maßstab zu erheben.

Nicht nur, dass seine Skulptur, gegossen, aber von gemeißelter Kraft, eine Todesvision beinhaltete, verstört ihn heute. Sondern dass er im Gespräch mit dem Architekten Minoru Yamasaki auf dem Platz vor dem World Trade Center gemunkelt hatte, "wenn deine Dinger umfallen, möcht ich net derschlagen werden". Auch der Künstler konnte nicht ahnen, dass das Bauwerk dem Untergang geweiht wäre, in die Erde gestampft durch psychotische Killer. Diese Dimension war abseits jeder und auch seiner Vorstellung. Doch ist es die in der Kugel mit angelegte Vorwegnahme des Schicksalhaften, die dem fragilen Künstler-Ich schwer zu schaffen macht, nun, da ihn "Bekundungen von Beileid und Freude" gleichermaßen in Atem halten und er vom Telefon gar nicht mehr weggkommt. Er säße zuhause wie gelähmt, könne sich der ihn bestürmenden Bilder und Anfragen nicht mehr erwehren: "Ich stochere in mir herum." Vor seinem inneren Auge passieren die stürzenden, fallenden, erschütterten, explodierenden Hochhäuser und Türme Revue, die sich in verschiedenen Phasen des Schaffens wiederholten und in leicht erregbaren Katastrophenphantasien wiederkehrten. Jetzt mustert er all die Motive mit überwachem Sinn, und macht sich Gedanken, warum ihn derartige Bilder besetzt halten.

Soweit den Fotografien aus Manhattan abzulesen, sei die "sehr betonte Visage" der Kugel wahrscheinlich zerstört, ihr Gesicht habe es vermutlich weggerissen. Das zyklopische Auge sei, soweit erkennbar, kaputt. Vom Brunnen, der kreisrund die Kugel umschloss, keine Spur. Betrachtet er, was von einem seiner Hauptwerke blieb, bestärkt das seine für den erwarteten Totalverlust festgelegte Haltung: "Sie ist nicht reparierbar. Sie ist nicht wiederherstellbar." Das sei technisch nicht möglich. Eine Rekonstruktion für ihn aber auch künstlerisch undenkbar; die Frage "so sinnlos wie die, kann man die Türme wieder aufbauen"? Koenig bekräftigt: "Die Kugel habe ich in meiner besten Zeit gemacht, vor über 30 Jahren." Sie könne nicht mehr "wiederauferstehen in der großen Form". Er fügt hinzu: "Was hätte das für einen Sinn."

Ihn bewegt in der Stunde wahrer Empfindung der starke Wunsch, dass die Rudimente erhalten und "geborgen werden". Wobei er den Begriff "geborgen" umfassend zu verstehen bittet: "Vielleicht als Mahnzeichen"; jedoch sei dieser Gedanke noch nicht zu Ende gedacht. Bedrängt von Medien wie nie im Leben, ringt Koenig sehr nach Worten. Von ihm wird verlangt, was er stets verhindern wollte, nämlich: sich öffentlich zu entblößen in seinen Gefühlen. Jetzt soll er auf allen Kanälen offene Bekenntnisse ablegen, Tribut eines Künstler, der sich nie als Lieferant von Deutungen verstand.

Unheimlich genug: Ausgerechnet das Sinnbild von Zerstörbarkeit und Verletzlichkeit bleibt offenbar erkennbar in den Trümmern von Manhattan. Koenig schwant: "Die Geschichte ist noch nicht zu Ende."

Jürgen Schreiber

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