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Panorama: New York: Verkaufe Jeans gegen Asche

Vor dem Chelsea Jeans Shop drängen sich die Menschen über den Bürgersteig am Broadway. Sie kehren zurück in den Alltag oder das, was davon übrig geblieben ist im Süden Manhattans.

Vor dem Chelsea Jeans Shop drängen sich die Menschen über den Bürgersteig am Broadway. Sie kehren zurück in den Alltag oder das, was davon übrig geblieben ist im Süden Manhattans. Polizisten stehen hinter den Absperrungen zur Straße. Keith Heitke zieht mit einem rollenden Koffer vorüber. Der junge Geschäftsmann und sein Freund sind auf dem Weg in ihr gemeinsames Büro im Sperrgebiet rund um die Trümmerwüste des World Trade Centers. Noch wissen die Rückkehrer nicht, wie es dort aussieht.

Zum Thema Online Spezial: Terror gegen Amerika Militärische Reaktionen: Die Vorbereitungen auf einen Gegenschlag Osama bin Laden: Amerikas Staatsfeind Nummer 1 Fahndung: Der Stand der Ermittlungen Fotos: Die Ereignisse seit dem 11. September in Bildern Moshe Alfassi kann sich ungefähr vorstellen, was sie erwartet. Er steht im Eingang seines Jeans-Ladens, die Atemmaske mit den Staubfiltern baumelt ihm um den Hals. Von der Ecke Johnstreet blickt er direkt auf die Halde aus Stahl und Schutt, in der die beiden Wolkenkratzer versunken sind.

Nur einen Block weiter westlich ist das Zentrum der Katastrophe von seinem Geschäft entfernt. Die Druckwelle, die beim Zusammenbruch der Twin Towers halb Manhattan in eine Wolke aus Staub und Asche hüllte, traf mit voller Wucht auf die Frontseite seines Ladens und durchschlug die Schaufenster.

Neue Frontscheiben sind bereits eingesetzt, doch im Laden liegt die feine Puderschicht noch immer zentimeterdick auf dem Boden und in den Regalen. Im Büro hinter dem rund 300 Quadratmeter großen Verkaufsraum hängen Deckenteile herab, die Stoßkraft der Erschütterung ist an der verzogenen Tapete einer Seitenwand abzulesen. "Hier ist alles noch so, wie wir es vorgefunden haben", sagt Moshe Alfassi und zündet sich eine Zigarette an. "Wir sollten draußen ein Schild anbringen: Rauchen im Laden erlaubt", scherzt er. Bis der 33-Jährige hier wieder Jeans verkaufen kann, wäre das nicht die schlechteste Geschäftsidee in einer Stadt, die dem blauen Dunst in fast allen öffentlich zugänglichen Räumen den Krieg erklärt hat.

Moshe Alfassi hat es am härtesten getroffen im ganzen Block. Sein Laden am Broadway 196 liegt direkt an der John Street, durch die der Sturm der Trümmer fegte. Viele Geschäfte in der Nachbarschaft haben wieder geöffnet kleine Restaurants, Elektronik- und Fotoläden - mit mäßigem Erfolg. Um über 50 Prozent seien die Umsätze zurückgegangen, sagt Alfassi. "Es kommen keine Touristen mehr, die Hotels sind fast leer. Die Straßen sind wieder belebt, aber die Leute, die hier rumlaufen, kaufen nichts."

Die verdreckte Ware kauft ihm jetzt ohnehin niemand mehr ab. "Am Montag wird der ganze Laden ausgeräumt. Die Versicherung lässt alles abholen, bezahlt den Schaden inklusive Miete und Umsatzausfall, bis wir wieder öffnen können." Kommende Woche soll ein Reinigungsunternehmen kommen. Es wird Wochen dauern, bis das Jeans-Geschäft wieder so aussieht wie vor der Katatstrophe. Vor Anfang November rechnet der Geschäftsmann nicht damit. Bis dahin kann er nicht mehr tun als abwarten und die Fragen der Journalisten und Kamerateams beantworten, die aus aller Welt zu ihm kommen. Seit eineinhalb Jahren betreibt der 33-Jährige den Jeans-Shop am Broadway. 25 000 Dollar Miete zahlt er jeden Monat, dazu kommen die laufenden Kosten, die Schuldentilgung und der Lohn für 13 Angestellte.

Ob er sie alle halten kann, weiss er nicht. Die Zukunft ist ungewiss. "Wir müssen anfangen, langsam ins Leben zurückzufinden", sagt Moshe Alfassi, "wir haben doch noch Glück gehabt."

Sein Geschäftspartner David Cohen steht neben ihm und nickt. Beide sind in Israel aufgewachsen, sie kennen das Leben im Schatten ständiger Bedrohung durch Terroranschläge. "Aber das hier", sagt David Cohen, "übertrifft alles bisher Dagewesene. Niemals sind so viele Menschen bei einem Terroranschlag ums Leben gekommen." Moshe Alfassi stammt aus Ramla in der Nähe von Tel Aviv. Nach New York kam er vor zwölf Jahren als Tourist. Er verliebte sich in ein Mädchen. Aus der Liebe wurde zwar nichts, doch Moshe blieb trotzdem. Mit seiner jetzigen Freundin lebt er in New Jersey, nur 30 Autominuten von seinem Jeansladen am Broadway entfernt. Heute früh habe er allerdings zwei Stunden gebraucht. Alle Brücken und Tunnel nach Manhattan sind heillos verstopft seit dem Terroranschlag. Lastwagen werden auf gefährliche Güter kontrolliert. Viele Menschen wagen sich aus Angst vor Giftgasanschlägen nicht mehr in die U-Bahn. Auch an jenem schwarzen Dienstag war Moshe Alfassi mit seinem Partner David Cohen auf dem Highway unterwegs in die Stadt, als er kurz vor der Einfahrt in den Holland-Tunnel sah, wie das Flugzeug in das World Trade Center raste. "Es war das Schrecklichste, was ich jemals gesehen habe." Wenige Minuten später sei der Tunnel geschlossen worden. Dann krachte das zweite Flugzeug in den Nordturm. Moshe und David liessen den Wagen stehen und vesuchten mit der Fähre nach Manhattan überzusetzen, doch auf dem Hudson River forderte die Küstenwache die Besatzung der Fähre zur Umkehr auf. In diesem Augenblick sei der erste Tower in sich zusammengestürzt. "Ich begann zu zittern, viele an Bord des Schiffes weinten." An sein Geschäft in unmittelbarer Nähe des World Trade Centers habe er keine Sekunde lang gedacht. Moshe Alfassi kann es immer noch nicht fassen. "Ich wache morgens auf, und mein erster Gedanke ist, es war alles nur ein böser Traum. Doch jedes Mal holt mich die Wirklichkeit wieder ein."

Vor neun Jahren lernte Moshe Alfassi seine heutige Freundin kennen, auch sie stammt aus Israel. "Nächsten Monat werden wir heiraten", erzählt Moshe. Umgeben von grauer Asche huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Sie werden nach Ramla fliegen, zu Moshes Familie.

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