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Balkon mit Aussicht. Bewohnerinnen schauen zu, wie unten auf der Straße Marinesoldaten mit Panzern in ihr Stadtviertel einrücken. Foto: AFP

© AFP

Panorama: „Operation Friedensschock“

Militär und Polizei haben die größte Favela Brasiliens besetzt – Kritiker bezweifeln, dass Rio damit dauerhaft befriedet werden kann

An die ratternden Panzerwagen in den frühen Morgenstunden erinnern sich viele Bewohner. Marinesoldaten und Polizeikräfte hatten am Sonntag die größte Favela Brasiliens erobert. 250 000 Einwohner zählt der mit Wellblechhütten und selbst gemauerten Steinhäusern zugebaute Hügel, an dessen Fuße die Jockeys mit ihren Rennpferden auf der berühmten Rennbahn um die Wette traben. Bereits nach zwei Stunden hissten schwer bewaffnete Polizisten auf dem Hügel der Rocinha die Flagge des Bundesstaates. Die Operation „Friedensschock“ ging ohne Verluste zu Ende. Ihre Bilanz: Polizisten nahmen den Kartellchef Antônio Bonfim Lopes fest und konnten zahlreiche Waffen, kiloweise Drogen und zahlreiche gestohlene Autos sicherstellen.

Dennoch fällt der Jubel unter der Bevölkerung verhalten aus. In den engen Straßen, die sich zwischen dem Häusermeer den Hang hinaufschlängeln, fürchten sich die Bewohner. Die Tyrannei der Drogenbosse und korrupten Polizisten sitzt ihnen tief in den Knochen. „Wir haben noch immer Angst“, sagt ein Mann im mittleren Alter vor laufenden Kameras. „Ich habe Freunde, die wohnen in anderen Favelas, die auch von Polizisten besetzt wurden. Dort geht der Drogenhandel weiter.“ Es gibt in Rio de Janeiro mehr als 1000 Armenviertel, so genannte Favelas. Die Besetzung der Armenviertel in Rio de Janeiro ist Teil einer umfassenden Strategie des Gouverneurs Sergio Cabral, um die anstehenden Großveranstaltungen wie der UN-Gipfel 20plus im kommenden Jahr, die Fußball WM 2014 oder die Olympischen Spiele in der Stadt 2016 abzusichern. Wurden die Armenviertel während der Panamerikanischen Spiele 2007 nur für wenige Wochen militärisch besetzt und dann wieder Drogenbaronen und korrupten Polizisten überlassen, werden seit 2009 ganze Gebiete dauerhaft unter staatliche Kontrolle gebracht. Hauptbestandteil sind so genannte Unidades de Polícia Pacificadora (UPP), Polizeiwachen, die inmitten der Armutsviertel die organisierte Kriminalität in diesen unübersichtlichen Wohngebieten zurückdrängen sollen. Bislang wurden 18 UPPs eröffnet. Zur WM 2014 sollen 40 UPPs und 12 000 Polizisten insgesamt 173 Favelas kontrollieren.

„Ein Staat, der jahrzehntelang auf brutalste Art und Weise die Kriminalität bekämpfte, greift nun zu einem alternativen Sicherheitskonzept. Das ist schon eine kleine Revolution“, sagt Robson Rodrigues da Silva, Polizeichef dieser Sondereinheiten der Policia Militar do Rio de Janeiro in den Favelas. „Wir wollen die Menschen würdevoll behandeln und als Polizei permanent vor Ort sein. Jahrzehnte lang waren sie von der Gesellschaft ausgeschlossen: durch die Diktatur, durch die Tyrannei der Drogenkartelle und vor allem, weil sich der Staat von seinen Bürgern abwandte.“ Keine andere Metropole auf der Welt muss derartig viele Gewaltopfer beklagen: 2010 starben nach Angaben des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit 4768 Menschen im Kugelhagel. Immerhin 1000 Tote weniger als vier Jahre zuvor. Vor allem die neue Sicherheitsstrategie macht Gouverneur Sergio Cabral für diesen „Teilerfolg“ verantwortlich. Doch erst ein Wandel im politischen Klima habe das Umdenken möglich gemacht, sagt Kommandant Rodrigues da Silva. „Unter der Regierung Luiz Ignacio da Silva wurden plötzlich die Armen anders wahrgenommen. In den Köpfen vieler Menschen, innerhalb wie außerhalb der Polizei, gab es das Vorurteil, die Armen seien prinzipiell kriminell. Es war ein Irrglaube, die Bevölkerung in den Favelas mit einer bis an die Zähne bewaffneten Polizei vollständig kontrollieren zu können. Wir müssen auf die Menschen zu gehen, mit ihnen sprechen und ihnen zuhören.“

Kritiker sind skeptisch, was den langfristigen Erfolg dieser neuen Sicherheitsstrategie angeht. Denn in ihren Augen dienten die neuen Polizeiposten nur dazu, die internationalen Großveranstaltungen abzusichern.

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