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Die Flut ist noch nicht weit zurückgewichen.

© AFP

Pakistan: Überleben nach der Flut

Die meisten Pakistaner, die in ihre Dörfer zurückkehren, stehen vor dem Nichts. Ein Besuch im Norden des Landes.

Hazrat Ali steht vor seiner Bäckerei und blickt ratlos auf das, was die Flut in Nowshera, östlich von Peshawar, hinterlassen hat. Keiner im Ort weiß, wann die Arbeiter in seinem Laden und im ganzen Städtchen den Schlamm und den Dreck werden beseitigen können.

Am 2. August verließen der 34-jährige Ali und seine sechsköpfige Familie das Haus, nachdem die Behörden vor Überschwemmungen gewarnt hatten. Innerhalb von 24 Stunden stand der Ort und mit ihm Alis Haus über zwei Meter tief im Wasser des Indus. Als Ali vor zwei Wochen zurückkehrte, fand er das Haus seiner Familie eingestürzt vor. Die meisten Häuser – mindestens 200 alleine in diesem Viertel – sind in Trümmern. Die Familie lebt noch in einem benachbarten Dorf. Ali kümmert sich um die Bäckerei. Von irgendetwas muss die Familie leben. Irgendwann wieder.

„Im Moment sehe ich wenig Hoffnung, das Geschäft bald wieder aufmachen zu können“, sagt Ali. Er hat weder Geld noch Mitarbeiter. Die Provinzregierung hat 250 Euro pro Familie als Entschädigung versprochen. Bekommen hat das Geld bisher jedoch kaum jemand. Die Behörden sind noch dabei, die Schäden abzuschätzen, bevor man mit der Verteilung der Entschädigung anfängt, sagt Hasnat Khan, ein ehemaliger Direktor der Stadtverwaltung in Nowshera.

Der Hauptbazar im Ort ist mittlerweile wieder geöffnet. Faqeer Mohammad, ein Schuhverkäufer, zeigt Kunden sogar frisch herangeschaffte Schuhe. „Wir haben unseren Vorrat in Sicherheit bringen können“, erzählt Mohammad froh, „aber viele haben die Warnungen vor der Überflutung nicht ernstgenommen und so ihre Waren verloren.“ Mohammad weist auf verdreckte Kleidungsstücke und Textilien im Geschäft nebenan. Die Sachen konnten nicht mehr gerettet werden.

Etwa 35 Kilometer östlich von Nowshera liegt das malerische Dorf Kund am Indus, ein bekanntes Ausflugsziel. Auf dem Weg zwischen Nowshera und Kund fährt man an den Trümmern der eingestürzten Lehmhäuser vorbei. Zahllose verschlammte Möbelstücke, Teppiche, Kissen liegen inmitten der Trümmer. Kilometerweit sieht es nicht anders aus in den kleinen Dörfern am Indus entlang der Autobahn N-5.

In weiten Teilen Pakistans wandelt sich die Flutkatastrophe mittlerweile in eine Überlebenskrise; die überwiegende Mehrheit lebt ohnehin durchschnittlich von weniger als eineinhalb Euro am Tag. Die Ernte für dieses Jahr haben die meisten Bauern rund um Nowshera verloren, wie auch das Saatgut für das kommende Jahr. „Ich hatte mir schon Geld geliehen und gehofft, das durch den Zuckerrohrertrag zurückzahlen zu können“, sagt Naeem Shah, einer von Hunderten Kleinbauern der Umgebung. Er ist nicht allein von dieser finanziellen Krise betroffen; es ist für viele pakistanische Bauern üblich, von Maklern Kredite zu beziehen. Sie leben vom geliehenen Geld. Und wenn man Pech hat und eine Dürre oder Überflutung die Ernte vernichtet, muss man auf die nächste Saison warten – ein Teufelskreis.

Solchen in Finanznot geratenen Bauern zu helfen, ist eine schwierige Herausforderung für die Regierung. Die Weltbank, der IWF wie auch die Asian Development Bank haben zwar fast 3,5 Milliarden Dollar Nothilfe in Form von Billigkrediten versprochen. Ob aber das alleine ausreichen wird, in einer unter Terrorgewalt leidenden Wirtschaft Bedürftigen und Flutopfern rechtzeitig und ausreichend zu helfen, ist unabsehbar.

Verwandte und Freunde haben sich in den vergangenen Wochen gegenseitig geholfen. Aber die meisten seien nicht in der Lage, alles aus eigener Kraft neu anzufangen. Sie bräuchten unbedingt Hilfe, mahnt Talat Hussein, ein Fernsehjournalist, der mit seinem Freund Kashif Abbasi, einem Fernsehmoderator, ein gemeinsames Konto für Spenden eröffnet hat. Für deutsche Verhältnisse ist es eine kleine Summe, aber die über 800 000 Euro, die auf diesem Konto eingegangen sind, bezeugen nicht nur die Popularität der Akteure, sondern unterstreichen auch das Vertrauen gegenüber Privatpersonen. „Gutherzige Menschen haben bisher getan, was sie tun konnten, um das Leid der Millionen zu lindern“, berichtet Mehboob Shah, der stellvertretende Koordinator des Flüchtlingslagers auf dem Gelände einer Berufschule in Risalpur, etwa 130 Kilometer von Islamabad entfernt. Hier wohnen etwa 567 von der Überschwemmung vertriebene Familien, 3 251 Menschen insgesamt, wobei Frauen und Minderjährige die Mehrheit ausmachen.

Am Samstag kamen neun mittelständische Geschäftsleute aus Bannu, einer ans Stammesgebiet angrenzenden Region, mit 9000 Euro. Sie kamen, weil sie gehört hatten, dass die Familien in diesem Lager dringend Hilfe nötig hätten, erläutert Shah. Das Eidfestival, das islamische Fest zum Abschluss des Fastenmonats, steht in einer Woche an. Eltern wollen neue Kleider und Schuhe für ihre Kinder kaufen. Dafür hätten die Geschäftsleute aus der armen Region Bannu ihre Ersparnisse gespendet, fügt Shah hinzu.

Vor seinem Übergangsbüro, eigentlich ein Unterrichtsraum, sitzt ein halbes Dutzend Frauen. Sie sprechen über die knappe Unterstützung seitens der Regierung. Einige beklagen, kein einziges Zelt bekommen zu haben. „Mein Mann Ikhtiar Shah verschwand während der Überflutung eines Nowshera-Viertels“, berichtet eine schlecht bekleidete Frau. Zwei Jungen, ihre Söhne, stehen bei ihr. Die Frau bemängelt die Nothilfe öffentlich. Nicht viele trauen sich, das zu tun; in einer von Religion geprägten konservativen Gesellschaft führen die Frauen ihr Leben meist hinter den Kulissen. Die Katastrophe zwang sie in die Zelte, wo sie rund um die Uhr ihre Zeit verbringen müssen.

„Es ist nicht einfach, von relativ größeren Häusern in Zelte gedrängt zu sein“, erinnert Sana Dschaleel von der Nichtregierungsorganisation Peace Education and Development Foundation in ihrem Büro in Peshawar. Von hier aus versuchen mehrere Frauenrechtsorganisationen, den Vertriebenen, vor allem den Frauen zu helfen.

Der Regierung aber traut kaum einer. Niemand weiß, ob seine Spende die Bedürftigen überhaupt erreicht. „Den Regierenden schenkt man kaum Vertrauen, das lässt sich auch an den zögernden Spenden in die staatliche Kasse ablesen“, berichtet Munawar Virk, Finanzdirektor eines Forschungsinstituts in Islamabad. Auch in den Parteien wie unter den Koalitionspartnern ist es wegen des Misstrauens zu Streitereien gekommen; viele Minister beschuldigen ihre Kollegen des Missbrauchs von Hilfsgütern und der ungleichen Verteilung.

Pakistan leidet unter den Folgen einer unfähigen und gleichgültigen Bürokratie. Weil nun aber die internationale Gemeinschaft auf die Katastrophe überwältigend reagiert hat, besteht die Gefahr, dass Hilfeleistungsstrukturen aufgebaut werden, die die vorhandenen staatlichen überlagern und verdrängen. Das würde freilich noch mehr Bürokratie bringen und vielleicht eine effektive Hilfeleistung erschweren, wenn nicht verhindern. Die schwachen staatlichen Einrichtungen müssten unterstützt und verstärkt werden, sagt ein deutscher Diplomat. Das sollte das längerfristige Ziel aller Länder sein, so dass sich Pakistan auf eigene Beine stellen kann, meint er.

Die ausländischen Helfer wie die Regierung aber stehen vor einer enormen logistischen Herausforderung: Brücken und Straßen sind entweder ganz zusammengebrochen oder teilweise zerstört, Getreide wie Saatgut vom Wasser weggetragen und zehntausende Häuser einfach verschwunden. Eine Riesenherausforderung für einen sozial wie wirtschaftlich wackelnden Staat.

Imtiaz Gul

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