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Panorama: Parsifal in Venedig: Maestros Nachtgedanken

Eilig erklimmen sie den Grünen Hügel, ihre Füße stecken in Turnschuhen, um den Hals ein Frotteehandtuch. In Bayreuth treffen festivalmüde Dirigenten auf ferienreife Musiker und versuchen, der allgemeinen sommerlichen Trägheit große Wagnermusik abzutrotzen.

Eilig erklimmen sie den Grünen Hügel, ihre Füße stecken in Turnschuhen, um den Hals ein Frotteehandtuch. In Bayreuth treffen festivalmüde Dirigenten auf ferienreife Musiker und versuchen, der allgemeinen sommerlichen Trägheit große Wagnermusik abzutrotzen. Ein physisches Extremerlebnis. Nur einer steht dem permanenten Rinnen des Schweißes und dem erbarmungslosen Verstreichen von Probenzeit gelassen gegenüber. Wenn er Parsifal vorbereitet, sinkt immer wieder der Taktstock - und es folgen Exkurse über das, was der nur "Dottore" genannte Dirigent an mythischen Figurationen aus der Partitur herausgelesen haben will. Symbole, Spuren des Heiligen. Der goldene Rahmen seiner Brille blitzt, die Zellen des hochspezialisierten Wagnerorchesterorganismus blinzeln verlegen. Nicht jeder Musiker ist Gralssucher, oft sucht er schlicht Anschluss an den Bogenstrich seines Pultnachbarn. Letztlich hat er es dann doch immer geschafft, irgendwie mit der Probenzeit hinzukommen. Um den Preis, dass der Musiker über den Wissenschaftler triumphierte. Für den "Dottore" bedeutete dies einen mehr als zweifelhaften Sieg.

Dieses Jahr wird die Wagnermaschine nicht durch die nachdenkliche Stimme Giuseppe Sinopolis am puren Funktionieren gehindert werden können. Der venezianische Dirigent, der inzwischen zum dienstältesten Bayreuther Maestro herangereift war, starb am 21. April dieses Jahres in Berlin nach einem Herzinfarkt an der Deutschen Oper. Ohne ihn erscheint der Grüne Hügel als als geriatrisches Sommerlager. Da empfiehlt es sich, neben einem weichen Sitzkissen Sinopolis 1991 entstandenen Text "Parsifal in Venedig" als Gegenmittel in die Reisetasche zu legen. Obwohl keine leichtfüßige Ferienlektüre, vermittelt die essayistische Erzählung doch so etwas wie Urlaub vom Alltag - weil sie radikal auf Abstand zum herrschenden Personenkult und Museumsdrang im Kunstbetrieb geht.

Nacht in der Lagunenstadt. Ein Dirigent tritt aus dem Teatro La Fenice, wo er "Parsifal" geprobt hat. Die Sitzung muss schlecht verlaufen sein, zu sehr in den technischen Dürftigkeiten der italienischen Wagnermusiker verfangen. Da blieb keine Zeit für Lektionen, und nun dürstet der Kopf des Maestro nach metaphysischer Erkenntnis. Das Irr-Motiv noch im Ohr, beginnt sich für ihn die vertraute Topografie der Stadt aufzulösen. Entlang der Calli, Sottoporgeti und Campi sucht der nächtliche Wanderer nach einem roten Faden und vermutet: "Als Insel-Labyrinth besitzt Venedig jenen höchsten Grad an Unantastbarkeit, der seit jeher dem erhabensten Zentrum zugeschrieben wird." Im verschlungenen Verlauf des Canal Grande, an dessen Ufern Richard Wagner starb, sieht er ein Zeichen der Wiedergeburt. Je tiefer sich der antikenkundige Musiker in die Nacht, die Stadt und die Symbolwelt wühlt, desto mehr Kreuze, Lanzen und Tempel erstehen auf Venedigs Pflaster. Jede Treppenstufe wird in allegorischer Exegese ein Schritt hin "zu einer Auffassung der Welt als etwas Heiliges, als Gerinnung der ursprünglichen Einheit, als Erscheinung des Göttlichen in der wirklichen Welt, um über den anfänglichen und letzten Sinn der Dinge nachdenken zu können". Das hat auch seine komischen Momente, wenn der Dirigent, nach planvollem Abschreiten von Bedeutungslinien im ummauerten Hof einer Mädchenschule Wagners heißgeliebte Blumenmädchen vermutet: "Gärten, Mädchen, Mauern, Blumen, Wasser".

Wohltuend weitet Sinopoli das Blickfeld über Wagners letzte Oper hinaus, um nicht "am Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu ersticken", wie Nietzsche polemisierte. Statt dessen offenbart sich, durch nur wenige erzählende Einschübe verflüssigt, ein Mannes, der Arzt und Archäologe war - und auch dirigierte. Nicht als talentierter Schriftsteller ist der Autor zu entdecken, sondern als bewusst elitärer Geist, der herausfordert und aneckt. Als Sinopoli einst in einem seiner wenigen Interviews forderte "Wir müssen wieder Tempel bauen", regierte man in Dresden, wo der Dirigent die Staatskapelle leitete, verschnupft. Die Semperoper steht doch längst da, sogar aus Schutt wiederaufgebaut! Doch Sinopoli suchte weiter nach der Mitte, einem geistigen Ort, der zweiten Geburt. Mit "Parsifal in Venedig" hinterlässt er einen spröden Reiseführer in Regionen, die nur schwer zu erreichen sind.

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