zum Hauptinhalt
Der Warschauer Kulturpalast.

© dpa

Polen: Stalins Riese

Der Kulturpalast wurde den Warschauern vom sowjetischen Bruder aufs Auge gedrückt. Später gab es Pläne, ihn abzureißen, doch der Koloss steht – und die Leute mögen ihn.

Auch Jurij Gagarin war im Kulturpalast. Auf der Terrasse im 30. Stock lehnte er sich über die Brüstung und schaute nach unten: „Von hier aus ist es aber ganz schön weit bis zur Erde!“ Drei Monate zuvor, im April 1961, war Gagarin der erste Mensch im All gewesen. „Ein Kosmonaut mit Höhenangst, das hätte niemand geglaubt“, sagt Hanna Szczubelek, die den Sowjet damals durch den Palast geführt hat. Heute kneift sie amüsiert die Augen hinter ihren Brillengläsern zusammen, die kurzen, grauen Haare tanzen im Wind. Hier oben weht er immer.

230 Meter misst der Kultur- und Wissenschaftspalast in Warschau. Er ist Polens höchstes Gebäude. Ein Koloss. 44 Stockwerke, 3288 Räume, 31 Aufzüge. Seine Spitze würde die Aussichtsplattform des Berliner Fernsehturms deutlich überragen. Seit fast 60 Jahren bieten seine Terrassen den besten Blick auf Warschau. Touristen drängen sich dicht. Man hört Englisch, Französisch, Russisch, Deutsch, Japanisch und viele andere Sprachen.

In der Ferne krümmt sich die Weichsel wie eine silberne Schleife. Wohnsiedlungen erstrecken sich weitläufig, bis rüber zu den riesigen Waldgebieten. Man sieht überfüllte Straßen. Baustellen. „Die Stadt wächst ständig, aus der Höhe erkennt man es am besten“, sagt Hanna Szczubelek. „Alle diese Hochhäuser aus Glas und Aluminium, die wie Pilze aus dem Boden schießen.“ Noch vor 15 Jahren habe es die nicht gegeben, da habe man viel weiter in die Ferne schauen können.

Seit 52 Jahren beobachtet Hanna Szczubelek ihre Heimatstadt von oben. Gleich nach der Schule wurde ihr eine Stelle als Sekretärin im Palast zugewiesen, es war eine Auszeichnung für ihre hervorragenden Ergebnisse im Stenotypiekurs. Bald bemerkte der Direktor ihr Schreibtalent. „Er meinte, der Palast würde einmal eine wichtige Rolle spielen. Und dass zukünftige Generationen erfahren sollten, was hier passierte.“ So wurde Frau Szczubelek zur offiziellen Palastchronistin.

„Eine Stadt in der Stadt“ wird das Gebäude heute in den polnischen Medien genannt. Es verbraucht tatsächlich so viel Strom und Wasser wie eine ganze Siedlung. Fast 5000 Menschen arbeiten hier. Außer den zahllosen Büros gibt es ein Theater, Kinos und Restaurants, dazu Bars, ein Schwimmbad, private Hochschulen und ein Jugendzentrum. Hanna Szczubelek hat ihr Büro im 15. Stock. Dort oben leben auch die Turmfalken, sie haben sich vor Jahren ein Nest gebaut. Der Wind dringt durch den hölzernen Fensterrahmen. Das mag Szczubelek lieber als die Klimaanlagen moderner Bürohäuser. Direkt am Fenster steht ihr massiver Schreibtisch, in der Ecke ein Schrank mit mehreren Dutzend Bänden. Ihre Chroniken.

Damals, als sie mit der ersten Seite des allerersten Bandes begann, sah Hanna Szczubelek durch ihr Fenster weit und breit nur Ruinen. Überall lagen Trümmer, es waren solche vom Krieg und solche von den Kämpfen des Warschauer Aufstandes gegen die deutschen Besatzer. Bei diesem Aufstand kam auch ihr Vater ums Leben.

Ganz langsam wuchs die Stadt in der Nachkriegszeit wieder, kaputte Häuser wurden abgerissen, um an ihrer Stelle neue zu errichten. Ganze Wohnsiedlungen entstanden dort, wo man vom Palast aus noch kurz zuvor Wald und Felder sehen konnte. Dazu der Hauptbahnhof, Bürotürme, Einkaufszentren.

Erst sehr viel später, irgendwann in den 90ern war das, verlor Hanna Szczubelek den Überblick. Immer mehr Gebäude ragten in den Himmel, immer dichter standen sie beieinander. Nun sah Warschau aus wie eine Stadt des Westens. Modern und teuer. Ganz in der Nähe des sozialistischen Kulturpalasts entsteht das teure Marriott-Hotel und Warschaus kapitalistisches Herz: die riesige verglaste Einkaufspassage Zlote Tarasy. Goldene Terrasse. In den Palast selbst zog ein Spielcasino ein. Höhle der kapitalistischen Sünden und des Geldes. „Was hätte Stalin gesagt, wenn er das gesehen hätte?“, fragt Hanna Szczubelek und lacht schon wieder.

Der Diktator persönlich hatte einst den polnischen Präsidenten Boleslaw Bierut gefragt: „Hätte Polen lieber eine U-Bahn, eine Wohnsiedlung oder ein Hochhaus?“ Stalin wollte ein Zeichen der sowjetisch-polnischen Freundschaft setzen. Oder besser gesagt: ein unübersehbares Symbol sowjetischer Dominanz. „Die U-Bahn brauchen wir nicht, und eine Wohnsiedlung werden wir selbst bauen“, habe Boleslaw Bierut geantwortet. In Wahrheit blieb dem polnischen Staatsoberhaupt keine Wahl. Bevor der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow zu Besuch nach Warschau kam, wurde der oberste Architekt der Stadt, Jozef Sigalin, ausdrücklich angewiesen, er solle den Vorschlag der Sowjets in jedem Fall dankend akzeptieren. „Was würden Sie von einem Hochhaus in Warschau halten?“, lautete die Frage.

Im April 1952 wurde der Vertrag über den Bau unterschrieben. Die Russen schlugen zunächst ein 120 Meter hohes Gebäude vor. Die Polen setzten ein noch ambitionierteres Projekt durch: einen 230 Meter hohen Palast, bloß zehn Meter niedriger als das Moskauer Vorbild. Nach drei Jahren war er fertig. Verspätungen kamen nicht infrage, es ging um die sowjetische Ehre. Das damalige Bautempo beeindruckt die Warschauer heute noch, wenn sie an die vielen anderen, scheinbar ewigen Baustellen ihrer Stadt denken. Die erste und bislang einzige U-Bahnlinie wurde 25 Jahre lang gebaut. Für die Fertigstellung des Nationalstadions, in dem die Europameisterschaft eröffnet wird, wurden insgesamt vier Jahre benötigt.

Kein anderes Gebäude in Polen hat so viele Emotionen provoziert wie der Kulturpalast. Viele fanden ihn toll und fortschrittlich. Andere, vor allem die Älteren, verspotteten ihn als „Pickel im Stadtbild“. Für sie war er Symbol der polnischen Niederlage und Unterwerfung.

Stalin selbst bekam sein Geschenk nicht mehr zu Gesicht. Er starb vor der Fertigstellung. Zunächst wurde der Bau nach dem sowjetischen Diktator benannt, doch als in Moskau Tauwetter einsetzte und Stalin aus der Geschichte verbannt werden sollte, durfte in Warschau zumindest die Gravur über dem Eingang bedeckt werden. Der Palast wurde fortan nur noch Kultur- und Wissenschaftspalast genannt, obwohl Stalins Name offiziell nie gestrichen wurde.

„Das Fundament des Sozialismus symbolisiert der Palast sicher nicht“, sagt Frau Szczubelek. „Eher eine Brücke in den Westen.“ Zwar trafen sich im Kongresssaal des Palasts auch in späteren Jahren die Parteichefs Polens und der befreundeten Länder. Chruschtschow und Breschnew waren hier, Ulbricht und Grotewohl – die Palastmitarbeiter mussten dann stets in ihren Räumen bleiben. Ansonsten aber wehte im Palast bald ein Wind aus dem Westen. Schon Anfang der 60er Jahre sorgte eine Ausstellung moderner US-amerikanischer Grafiken für Aufregung. „Heute würde man sagen, es sei nichts Besonderes. Aber damals stellten sich die Leute um 6 Uhr früh an, um sich die Kunst anzusehen“, erinnert sich die Chronistin.

Dann zieht sie einen weiteren Band aus dem Regal, blättert darin, liest vor: „13. April 1967. Rolling Stones spielen im Palast“. Hanna Szczubelek zuckt mit den Schultern, sie sagt, das sei nicht ihre Musik. Und dass dieses Konzert für die meisten Polen aber sehr wohl ein Ereignis gewesen sei. Draußen vorm Palast kam es zu Ausschreitungen, weil viele Jugendliche keine Tickets bekamen. Gerade als drinnen Mick Jagger die kommunistischen Offiziellen in den ersten Reihen empörte, weil er seine Hose auf der Bühne auszog und den Hintern bloß in Boxershorts gehüllt in ihre Richtung streckte, stürmten die Randalierer den Saal. Schließlich mussten Sicherheitskräfte das Gebäude abriegeln, der Auftritt wurde Legende. Bald überstieg die Anzahl derjenigen, die behaupteten, die Stones in Warschau gesehen zu haben, deutlich die Zahl der Plätze im Saal.

Szczubelek blättert weiter. 1987 stand draußen, direkt vorm Palasteingang, ein Altar. Vor dem betete Papst Johannes Paul II., tausende Pilger waren gekommen. Die Sowjets hatten im Vorfeld verhindert, dass an der Fassade des Gebäudes christliche Symbole aufgehängt wurden: „Kein Kreuz an unserem Geschenk.“

Schon zwei Jahre später besetzten andere den Platz. Die sogenannten Self-made-Kapitalisten, kleine Händler, die auf Klappbetten und Tischen eigenhändig importierte Jeans aus der Türkei, Elektrogeräte aus Thailand oder Schuhe aus Italien verkauften, übernahmen hier nun die Macht. Der polnische Kapitalismus war geboren. Auch im Gebäudeinneren materialisierte sich der Zeitenwandel: Bereits 1990 öffnete Coca-Cola hier seine erste Polen-Dependance. Kurz danach kamen italienische Modelabels mit eigenen, exklusiven Galerien. Der Palast diente ihnen aber nur als vorläufiger Unterschlupf, im Laufe der Zeit bauten die Unternehmen eigene Bürohäuser in der Stadt, mit denen die veralteten und teuren Räume des Palasts nicht konkurrieren konnten.

Die Stadt änderte sich, der Palast blieb derselbe. Manchmal bekamen sie Besuch von ehemaligen sowjetischen Ingenieuren, erzählt Frau Szczubelek. Die waren alle verblüfft. Sie dachten, der Kulturpalast werde nach der Wende bald verfallen oder gleich ganz abgerissen. Tatsächlich wurden in Warschau Stimmen laut, die forderten, man solle das Symbol der sowjetischen Herrschaft schnellstmöglich zerstören – oder zumindest von allen Seiten mit Hochhäusern umbauen, so dass der Koloss im Stadtbild nicht mehr auffiele. Lech Kaczynski, der spätere Präsident, in den 90er Jahren Bürgermeister von Warschau, setzte sich für die Umbauungsstrategie ein. Dieser Plan schlug genauso fehl wie der eines US-amerikanischen Bauinvestors. Der Mann wollte den Palast kaufen und modernisieren, viel Glas einsetzen. Ein Wolkenkratzer fürs neue Jahrtausend hätte es werden können. Wäre der Investor nicht vor Vertragsabschluss gestorben. Er hatte seine Frau betrogen, der Schwiegervater erschoss ihn.

Weil die Freunde des Turms zwar nicht allzu zahlreich waren, doch auch nicht weniger als seine Feinde, blieb der Palast letztlich stehen. Und wurde – ausgerechnet er – ganz unmerklich zum Symbol der polnischen Hauptstadt, sagt Hanna Szczubelek. So war das eigentlich nicht geplant.

Agnieszka Hreczuk

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false