zum Hauptinhalt
Bundespräsident Christian Wulff beim Festakt in Bremen am 3. Oktober.

© dpa

Präsidentenrede: Wulff: "Risse in unserer Gesellschaft"

"Deutschland muss Verschiedenheit aushalten": Anlässlich von 20 Jahren Einheit sprach Bundespräsident Christian Wulff in Bremen über Integration und Zusammenhalt, Rechte und Pflichten und die verstorbene Jugendrichterin Kirsten Heisig.

Wir feiern heute, was wir vor 20 Jahren erreicht haben: Einigkeit und Recht und Freiheit für unser deutsches Vaterland. Wir erinnern uns an jenen epochalen Tag, wie ihn ein Volk nur selten erlebt. Ich denke an die Bilder aus Berlin, in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober. An die Menschen, die vor dem Reichstagsgebäude standen. An die gespannte Erwartung in den Momenten vor Mitternacht. An den Klang der Freiheitsglocke. An das Hissen der Fahne der Einheit. An die Nationalhymne. An das Glücksgefühl. An die Tränen. An den Zusammenhalt in diesem historischen Augenblick unserer Geschichte. Auch 20 Jahre später erfüllt mich dies mit großer Dankbarkeit.

Seit 20 Jahren sind wir wieder „Deutschland, einig Vaterland“. Doch was meint „einig Vaterland“? Was hält uns zusammen? Sind wir zusammengewachsen, trotz aller Unterschiede? Eine erste Antwort liegt auf der Hand: Es ist die Erinnerung an unsere gemeinsame Geschichte.

Zu ihr gehört, dass wir an alle denken, die diese Einheit möglich machten. An die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, die beharrlich gegen eine Diktatur Widerstand geleistet haben. Die verstorbene Bärbel Bohley war eine von ihnen. Sie hat gezeigt, was Mut bewegen kann und hat damit vielen Menschen Mut gegeben. „Nichts war uns zu groß, als dass wir es nicht angepackt, nichts war uns zu klein, als dass wir uns nicht darum gekümmert hätten.“ Das war so ein Satz von ihr. Er berührt mich bis heute. Ich verneige mich vor Bärbel Bohley. Ich verneige mich vor allen, die für die Freiheit gekämpft haben.

Die Kirchen gaben dem aufbrechenden Mut zur Freiheit ein Obdach. Viele Menschen fühlten: Es muss sich etwas ändern. Doch damit allein ändert sich nichts. Ich muss etwas ändern. Und es begann mit den Montagsgebeten und den Montagsdemonstrationen. Erst gingen wenige, dann immer mehr Mutige auf die Straßen, überall in Ostdeutschland. Es wurde zum „Wunder von Leipzig“. Mit seiner Wucht und seinem friedlichen Verlauf war es wirklich ein Wunder, ein Wendepunkt. Bewirkt von Menschen. Sie haben sich selbst aus der Diktatur befreit – ohne Blutvergießen. Der Freiheitswille der Menschen war immer da - ungebrochen. Doch jetzt war die Zeit da. Was 1953 noch von Panzern niedergewalzt wurde, konnte 1989 nicht mehr aufgehalten werden. Das ist die historische Leistung der Menschen. Ihr Mut hat die Welt beeindruckt.

Das Ausland war kritisch

Ohne die europäische Freiheitsbewegung ist die deutsche Einigung nicht denkbar. Nicht ohne die polnischen Arbeiter mit dem polnischen Papst im Rücken, Johannes Paul II., der vor Ort predigte „Fürchtet Euch nicht“. Die „Solidarność“ hat Stück für Stück ihre Freiheit erkämpft und damit letztlich auch unsere. Das sage ich besonders gerne hier in Bremen, der Partnerstadt von Danzig. Nicht ohne Michail Gorbatschow, der im Zuge von Glasnost und Perestroika den Machtanspruch der Sowjetunion aufgab, über andere Länder zu herrschen und so Selbstbestimmung ermöglichte. Nicht ohne die ungarische Regierung, die die Grenze als erste geöffnet hatte. Russen, Polen, Ungarn – das war ganz große Hilfe von Freunden, von denen wir es nicht erwarten konnten. Wir erinnern an die Monate, in denen Volkskammer und Bundestag um die vielen kleinen Schritte zur Einheit Deutschlands rangen. Das war eine beispiellose Leistung von Politik und Verwaltungen in beiden Teilen Deutschlands.

Es gab Ängste und Widerstände. Vor allem im Ausland fragten sich viele, ob das gut geht, wenn es ganz Deutschland wieder gut geht. Wer wollte ihnen das verdenken, nach den von Deutschland ausgehenden Irrwegen, Schrecken und Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Wir sind unendliche dankbar

Weitsichtige Staatsmänner halfen, die Ängste und Widerstände zu überwinden: Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher gemeinsam mit Lothar de Maizière. Wegbereiter waren Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Schmidt. Sie alle haben Vertrauen geschaffen. Ohne dieses Vertrauen hätte es die Wiedervereinigung so nicht gegeben. Und auch nicht ohne unsere Freunde im transatlantischen Bündnis, die über 40 Jahre hinweg die Freiheit der Bundesrepublik und West-Berlins garantiert hatten. Die Unterstützung der Einigung durch George Bush sen. werden wir nie vergessen. Für all das sind wir unendlich dankbar.

Deutschland konnte als Ganzes wieder zum gleichberechtigten Mitglied der Völkergemeinschaft werden. Wir sind umgeben von Freunden. Welch ein großes Glück – für unser Land und für die Menschen. Aus zwei Staaten wurde einer. Das war nicht ohne Probleme. Aber es gab viel Solidarität. Westdeutsche machten sich im Osten und für den Osten stark, mit ihrem Fachwissen, ihrem Unternehmergeist und ihrer politischen Erfahrung. Die Ostdeutschen aber waren es, die den allergrößten Teil des Umbruchs geschultert haben, damit unser Land wieder zusammenfand. Sie mussten ihr Leben gewissermaßen von Neuem beginnen, ihren Alltag neu organisieren, Chancen nutzen. Sie haben es getan. Mit einer unglaublichen Bereitschaft zur Veränderung. Das ist nicht ausreichend gewürdigt worden.

Auch Gutes ging verloren

Viele konnten ihre Hoffnungen verwirklichen – endlich reisen, wohin sie wollten, das studieren und lesen, was sie wollten, diskutieren, was und mit wem sie wollten, sich frei für einen Beruf entscheiden oder sich mit ihren Ideen selbständig machen. Andere haben jahrelang um einen persönlichen Neuanfang gerungen. Manche bis heute.

Gewiss ist auch Erhaltenswertes verloren gegangen. Unendlich Wertvolles wurde jedoch gewonnen: die Erfahrung der Menschen, dass sie mit ihrem Mut zur Veränderung ihr Leben in Freiheit gestalten konnten. Damit haben sie der deutschen Geschichte ein wichtiges Kapitel hinzugefügt. Damit haben sie aus ganz Deutschland ein anderes Deutschland gemacht. Damit haben sie vorgelebt, wie Umbrüche zu meistern sind, für das persönliche Glück wie für unseren Zusammenhalt. Damit kommen wir zur zweiten Antwort auf unsere Frage: „Deutschland, einig Vaterland“? Was heißt das heute? 20 Jahre nach der Einheit stehen wir vor der großen Aufgabe, mit dem Mut zur Veränderung neuen Zusammenhalt zu finden in Deutschland, in einer sich rasant verändernden Welt. Denn in dieser Welt ist das Versprechen alter Gewissheiten trügerisch.

Unser Land ist offener geworden, der Welt zugewandter. Vielfältiger – und unterschiedlicher. Alltag und Lebensentwürfe haben sich gewandelt. Die Gründe kennen wir: weltweiter Wettbewerb, globale Handelswege, neue Technologien, grenzenlose Kommunikation, Zuzug von Einwanderern, demographischer Wandel und – ja, auch das, neue Bedrohungen von außen. Lebenswelten driften auseinander: die von Alten und Jungen; Spitzenverdienern und denen, die vom Existenzminimum leben; von Menschen mit und ohne sicherem Arbeitsverhältnis; von Volk und Volksvertretern; von Menschen unterschiedlicher Kulturen und Glaubensbekenntnisse.

Das Land muss Verschiedenheit aushalten

Manche Unterschiede lösen Ängste aus, leugnen dürfen wir sie nicht. Doch trotzdem kann gar nicht oft genug gesagt werden: Ein freiheitliches Land wie unseres – es lebt von Vielfalt, es lebt von unterschiedlichen Lebensentwürfen, es lebt von Aufgeschlossenheit für neue Ideen. Sonst kann es nicht bestehen. Zu viel Gleichheit erstickt die eigene Anstrengung und ist nur um den Preis der Unfreiheit zu haben. Das Land muss Verschiedenheit aushalten. Es muss sie wollen. Aber: Zu große Unterschiede gefährden den Zusammenhalt. Daraus folgt für mich: Vielfalt schätzen, Risse in unserer Gesellschaft schließen – das bewahrt vor Illusionen, das schafft echten Zusammenhalt. Das ist Aufgabe der „Deutschen Einheit“ - heute! 1989 haben die Ostdeutschen gerufen: „Wir sind das Volk, wir sind ein Volk!“ Das rief ein Nationalgefühl wach, das lange verschüttet war – aus nachvollziehbaren historischen Gründen. Inzwischen ist in ganz Deutschland ein neues Selbstbewusstsein gewachsen, ein unverkrampfter Patriotismus, ein offenes Bekenntnis zu unserem Land, das um die große Verantwortung für die Vergangenheit weiß und so Zukunft gestaltet. Dieses – im Sinne des Wortes – Selbst-Bewusstsein tut uns gut. Es tut auch unserem Verhältnis zu anderen gut: Denn wer sein Land mag und achtet, kann besser auf andere zugehen.

„Wir sind ein Volk“! Dieser Ruf der Einheit muss heute eine Einladung sein an alle, die hier leben. Eine Einladung, die nicht gegründet ist auf Beliebigkeit, sondern auf Werten, die unser Land stark gemacht haben. Mit einem so verstandenen „wir“ wird Zusammenhalt gelingen – zwischen denen, die erst seit kurzem hier leben, und denen, die schon so lange einheimisch sind, dass manche vergessen haben, dass auch ihre Vorfahren von auswärts kamen. Wenn mir deutsche Musliminnen und Muslime schreiben: „Sie sind unser Präsident" – dann antworte ich aus vollem Herzen: Ja, natürlich bin ich Ihr Präsident! Und zwar mit der Leidenschaft und Überzeugung, mit der ich der Präsident aller Menschen bin, die hier in Deutschland leben.

Ich habe mich gefreut über den offenen Brief einer Gruppe von Schülern mit familiären Wurzeln in 70 verschiedenen Ländern. Sie alle sind Stipendiaten einer Stiftung, die engagierte Jugendliche unterstützt. Sie schreiben: „Für uns spielt keine Rolle, woher einer kommt, sondern vielmehr, wohin einer will. Wir glauben daran, dass wir gemeinsam unseren Weg finden werden. Wir wollen hier leben, denn wir sind Deutschland.“ Natürlich spielt es eine Rolle, woher einer kommt. Es wäre schade, wenn das nicht so wäre. Aber die entscheidende Botschaft dieses Appells lautet: Wir sind Deutschland!

Der Islam gehört zu Deutschland

Wir sind Deutschland. Ja: Wir sind ein Volk. Und weil diese Menschen mit ausländischen Wurzeln mir wichtig sind, will ich nicht, dass sie verletzt werden in durchaus notwendigen Debatten. Legendenbildungen, Zementierung von Vorurteilen und Ausgrenzungen dürfen wir nicht zulassen. Das ist in unserem ureigenen nationalen Interesse. Die Zukunft gehört den Nationen, die offen sind für kulturelle Vielfalt, für neue Ideen und für die Auseinandersetzung mit Fremden und Fremdem. Deutschland muss mit seinen Verbindungen in alle Welt offen sein gegenüber denen, die aus allen Teilen der Welt zu uns kommen. Deutschland braucht sie! Im Wettbewerb um kluge Köpfe müssen wir die Besten anziehen und anziehend sein, damit die Besten bleiben. Meine eindringliche Bitte lautet: Lassen wir uns nicht in eine falsche Konfrontation treiben.

Johannes Rau hat bereits vor zehn Jahren klug und nachdenklich an uns appelliert, „ohne Angst und ohne Träumereien“ gemeinsam in Deutschland zu leben. Wir haben von drei Lebenslügen längst Abschied genommen. Wir haben erkannt, dass Gastarbeiter nicht nur vorübergehend kamen, sondern dauerhaft blieben. Wir haben erkannt, dass Einwanderung stattgefunden hat, auch wenn wir uns lange nicht als Einwanderungsland definiert und nach unseren Interessen Zuwanderung gesteuert haben. Und wir haben erkannt, dass multikulturelle Illusionen die Herausforderungen und Probleme regelmäßig unterschätzt haben. Verharren in Staatshilfe, Kriminalitätsraten, Machogehabe, Bildungs- und Leistungsverweigerung. Ich habe die vielen hundert Briefe und E-Mails gelesen, die mich zu diesem Thema erreichten. Mich beschäftigen die Sorgen und Ängste der Bürgerinnen und Bürger sehr.

Und dennoch, wir sind weiter, als es die derzeitige Debatte vermuten lässt: Es ist Konsens, dass man Deutsch lernen muss, wenn man hier lebt. Es ist Konsens, dass in Deutschland deutsches Recht und Gesetz zu gelten haben. Für alle – wir sind ein Volk. Es gibt Hunderttausende, die sich täglich für bessere Integration einsetzen. Viele - zum Beispiel als Integrationslotsen - freiwillig, uneigennützig und ehrenamtlich. Unsere Kommunen leisten Beträchtliches, wenn sich Politik und Bürger zusammentun. Alle sollen gemeinsam das Netz weben, das unsere Gesellschaft in aller Vielfalt und trotz aller Spannungen zusammenhält.

Wer unsere Werte verachtet, muss mit Gegenwehr rechnen

Auch wenn wir weiter sind, als es die derzeitige Debatte vermuten lässt, sind wir ganz offenkundig nicht weit genug. Ja, wir haben Nachholbedarf, ich nenne nur als Beispiele: Integrations- und Sprachkurse für die ganze Familie, mehr Unterrichtsangebote in den Muttersprachen, islamischen Religionsunterricht von hier ausgebildeten Lehrern. Und ja, wir brauchen viel mehr Konsequenz bei der Durchsetzung von Regeln und Pflichten– etwa bei Schulschwänzern. Das gilt übrigens für alle, die in unserem Land leben. Zuallererst brauchen wir eine klare Haltung: Ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. Vor fast 200 Jahren hat es Johann Wolfgang von Goethe in seinem „West-östlichen Divan“ zum Ausdruck gebracht: „Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.“

Wie haben die Schüler gesagt? Wichtig ist, wohin einer will. Sie glauben daran, dass wir einen gemeinsamen Weg finden. Der gemeinsame Weg braucht Einigkeit über das gemeinsame Ziel. Jetzt zur dritten Antwort auf unsere Ausgangsfrage. „Deutschland, einig Vaterland“ - zu Hause zu sein in diesem Land: das heißt, unsere Verfassung und die in ihr festgeschriebenen Werte zu achten und zu schützen: Zuallererst die Würde eines jeden Menschen, die Meinungsfreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sich an unsere gemeinsamen Regeln zu halten und unsere Art zu leben, zu akzeptieren. Wer das nicht tut, wer unser Land und seine Werte verachtet, muss mit entschlossener Gegenwehr rechnen – das gilt für fundamentalistische ebenso wie für rechte oder linke Extremisten. Wir erwarten zu Recht, dass jeder sich nach seinen Fähigkeiten einbringt in unser Gemeinwesen. Wir verschließen nicht die Augen vor denjenigen, die unseren Gemeinsinn missbrauchen. „Unser Sozialstaat ist kein Selbstbedienungsladen ohne Gegenleistungsverpflichtung“, so schlicht und richtig hat es die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig ausgedrückt. Und weiter: „Wenn die Menschen staatlich alimentiert werden, darf die Gemeinschaft erwarten, dass die Kinder wenigstens in die Schule geschickt werden, damit sie einen anderen Weg einschlagen und in ihrem späteren Leben auf eigenen Beinen stehen.“

Niemand soll vergessen, was er unserem Land zu verdanken hat

Wir achten jeden, der etwas beiträgt zu unserem Land und seiner Kultur. Es gibt die Ärztin, den Deutschlehrer, den Taxifahrer, die Fernsehmoderatorin, den Gemüsehändler, den Fußballspieler, den Filmemacher, die Ministerin und viele weitere Beispiele gelungener Integration. Wir können stolz sein auf unsere kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungen. Vor allem auf das soziale Klima in unserem Land, auf Toleranz, Kompromissfähigkeit und Solidarität. Das hat uns auch in der Wirtschaftskrise geholfen. Gewerkschaften, Arbeitgeber, Beschäftigte – alle haben gezeigt: Die Kraft zum Ausgleich, zum Verhandeln, zu einfallsreichen Lösungen, die Kraft zum Zusammenhalt, die Kraft zum Konsens – das ist Deutschland. Neuer Zusammenhalt in der Gesellschaft ist nur möglich, wenn sich kein Stärkerer entzieht und kein Schwächerer ausgegrenzt wird. Wenn jeder in Verantwortung genommen wird und jeder verantwortlich sein kann.

Wer lange vergeblich nach Arbeit sucht, sich von einem unsicheren Job zum nächsten hangeln muss, wer das Gefühl hat, nicht gebraucht zu werden und keine Perspektive erhält, der wird sich enttäuscht von dieser Gesellschaft abwenden. Wer sich zur Elite zählt, zu den Verantwortungs- und Entscheidungsträgern, und sich seinerseits in eine eigene abgehobene Parallelwelt verabschiedet – auch der wendet sich von dieser Gesellschaft ab. Leider haben wir genau dies erlebt. Niemand sollte vergessen, was er auch dem Zufall seiner Geburt und unserem Land zu verdanken hat – und er sollte es als seine Pflicht begreifen, unserem Gemeinwesen etwas zurückzugeben.

Auch die Älteren bringen viel Gutes ein

Die immer zahlreicheren Älteren bringen viel Gutes ein. Viele wollen über die Altersgrenzen hinaus in ihrem Beruf arbeiten, aber mit etwas weniger Stunden. Das müssen wir möglich machen. Andere engagieren sich ehrenamtlich, bringen ihr Wissen und ihre Erfahrung ein – warum nicht auch in einem freiwilligen sozialen Jahr für Ältere? Wie sieht eine Gesellschaft aus, in der sich niemand überflüssig fühlt und die niemanden überflüssig macht? Wie können die integriert werden, die schon seit vielen Jahren keine Arbeit mehr haben? Wie können die teilhaben, denen wegen einer Behinderung nicht die gleichen Möglichkeiten offen stehen wie anderen?

Die erfolgreichste Art, den Zusammenhalt zu stärken, ist, anderen zu vertrauen und ihnen etwas zuzutrauen. Menschen können so vieles erreichen, wenn jemand an sie glaubt und sie unterstützt. Das habe ich immer wieder erlebt. In der Kinderkrippe meines Sohnes, in der behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam betreut werden, ist ein kleiner Junge. Seinen Eltern wurde wegen dessen Behinderung vorhergesagt: Er wird nur krabbeln können. Jetzt kann er laufen. Durch neuartige, früh- und heilpädagogische Förderung. Und weil die Eltern und Erzieherinnen ihn unterstützt und ihm etwas zugetraut haben und er von anderen Kindern lernen konnte.

Kein Kind soll ohne Berufschance bleiben

Wir müssen bei den Kindern anfangen. Wie viele einst an die Einheit geglaubt haben, obwohl sie in weiter Ferne lag, müssen wir uns Ziele stecken, die weit entfernt scheinen, aber erreichbar sind: Kein Kind soll ohne gute Deutschkenntnisse in die Schule kommen. Kein Kind soll die Schule ohne Abschluss verlassen. Kein Kind soll ohne Berufschance bleiben. Es sind unsere Kinder und Jugendlichen, um die es hier geht. Sie sind das Wertvollste, was wir haben. Manches kostet keinen Cent, nur Zeit und Zuwendung: mit einem Kind – nicht nur mit dem eigenen – etwas unternehmen, ihm etwas vorlesen, ihm zuhören. Wir brauchen Eltern, die ihren Kindern sagen: Strengt Euch an! Wir brauchen mehr Lob und Unterstützung für Lehrerinnen und Lehrer, die sagen: Wir geben nicht auf in unserem Bemühen, jedes einzelne Kind zu fördern und auf den Weg zu bringen. Wir brauchen mehr Unternehmen, die sagen: Wir geben den vielen, die es sich verdient haben, eine Chance – egal ob er oder sie nun Schulze oder Yilmaz heißt, Kinder hat oder nicht, als zu jung oder zu alt gilt.

Viele, die trotz Widrigkeiten in eine gute Zukunft gehen konnten, verdanken das Menschen, die ihnen in entscheidenden Momenten geholfen haben. Ich selbst habe Lehrer und Nachbarn gehabt, die mir geholfen haben, als meine Mutter erkrankte. Einfach so. Der Vater der SOS-Kinderdörfer, Hermann Gmeiner, hat es so ausgedrückt: „Alles Große in unserer Welt entsteht nur, weil jemand mehr tut, als er muss“. „Wir sind das Volk“: mit diesen vier Worten haben Menschen, die zusammengehalten haben, ein ganzes Regime hinweggefegt. Jeder, der dies gerufen hat, hat das Gefühl der Ohnmacht überwunden, hat sich für zuständig erklärt und Verantwortung übernommen. Unsere Kinder sollen die Geschichte unseres Landes und den unschätzbaren Wert der Freiheit, der Verantwortung, der Gerechtigkeit verstehen.

Wir sind noch nicht fertig

Sie sollen erfahren, wie wichtig es ist, die Aufgaben der Zukunft gemeinsam mit anderen anzupacken. Ängste vor Fremdem, Neuem und Konkurrenz nicht abtun, aber dann umso beherzter und mutiger die Zukunft angehen. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Mit der Europäischen Union haben wir ein wunderbares Modell dafür geschaffen, wie Kooperation gelingen kann. „In Vielfalt geeint“ ist zu Recht das europäische Motto, nach dem wir eine beispiellose Integration von Nationalstaaten geschaffen haben. Es zeigt der ganzen Welt: Wir Europäer haben aus der Geschichte gelernt! Die drängenden globalen Zukunftsfragen wie Klimaschutz, Armutsbekämpfung, Terrorabwehr und Neuordnung der Finanzmärkte müssen wir als Europäer gemeinsam angehen. Die Welt verändert sich. Aufstrebende Länder nehmen die ihnen zustehenden Plätze ein. Wir Europäer müssen an einer Weltordnung mitarbeiten, in der wir uns auch dann noch wohlfühlen, wenn unser relatives Gewicht abnimmt. Es gibt viel Kritik an Europa. Ich werde nicht aufhören, mich für Europa einzusetzen.

Für unser Land hat sich am 3. Oktober 1990 eine Hoffnung erfüllt. Gleichzeitig haben wir an diesem 3. Oktober eine einmalige Chance zum Neuanfang bekommen. Wir haben diese Chance genutzt. Lassen Sie uns alle zusammen stolz sein auf das Erreichte. Aber wir sind nicht fertig. Es geht darum, die Freiheit zu bewahren, die Einheit immer wieder zu suchen und zu schaffen. Es geht darum, dieses Land zu einem Zuhause zu machen – für alle; sich einzusetzen für gerechte Verhältnisse – für alle. Dieses Land ist unser aller Land, ob aus Ost oder West, Nord oder Süd und egal welcher Herkunft. Hier leben wir, hier leben wir gern, hier leben wir in Frieden zusammen – hier stehen wir ein für Einigkeit und Recht und Freiheit.

Wir gehen mit Mut und Zuversicht nach vorne. Die vergangenen 20 Jahre haben gezeigt, was wir gemeinsam schaffen können. Wir sind – im doppelten Sinne des Wortes – zusammengewachsen und zusammen gewachsen. Gott schütze Deutschland.

Zur Startseite