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Prozess: Marco will seine Ehre wiederherstellen

Der 17-Jährige ist nach acht Monaten U-Haft wieder zu Hause, doch zum Prozess kehrt er in die Türkei zurück.

Inbrünstiger und fröhlicher als üblich klingen die Weihnachtslieder in der Uelzener St.-Petri-Kirche, als sich am späten Freitagabend mehr als hundert Menschen in dem rot geklinkerten Gotteshaus zu einem Dankgottesdienst versammeln. Im Mittelpunkt steht ein junges Mitglied der evangelischen Kirchengemeinde, das gerade nach 247 Tagen Haft die ersten Schritte in die Freiheit gegangen ist: der 17-jährige Schüler Marco Weiss.

Propst Wolf von Northeim hat für den spontanen Gottesdienst eine Apostelgeschichte ausgewählt, die davon handelt, wie Petrus von einem Engel aus dem Gefängnis befreit wird. Der Uelzener Kirchenmann knüpft damit an ein Wort der hannoverschen Landesbischöfin Margot Käßmann an, die den Wunsch geäußert hatte, dass Marco ein Engel zur Seite stehen möge. Niemand in der Kirche zweifelt daran, dass auch himmlische Mächte zu der Gerichtsentscheidung im fernen Antalya dazu beigetragen haben, dass Marco nach acht Monaten aus der Untersuchungshaft frei ist – und zu Weihnachten den Gottesdienst in der Kirche feiern kann, in der er einst konfirmiert worden ist.

„Lieber Marco, du hast Menschen zusammengeführt, du bist die Quelle eines Bündnisses der Menschlichkeit und Liebe“, hat jemand in ein dickes Buch geschrieben, das zwischen Kerzen und Windlichtern am Kircheneingang ausliegt. „Jetzt kann Weihnachten kommen.“ Fast eine Art Altar hatten sie für den vorübergehend verlorenen Sohn errichtet, der beschuldigt wird, während des Osterurlaubs in der Türkei eine 13-jährige Britin sexuell missbraucht zu haben. Und niemand in Uelzen zeigt sich enttäuscht darüber, dass Marco nun nach seiner Freilassung nicht gleich in seine Heimatstadt zurückkehrt, sondern ein paar Tage abseits des Medienrummels mit seiner Familie verbringt.

Am Samstagmorgen ist der Schüler mit seinem Vater und seinen deutschen Anwälten in einem Privatjet in Nürnberg gelandet und von dort in einem Auto an einen geheimen Ort gebracht worden, wo er bereits von seiner Mutter und seinem 19-jährigen Bruder Sascha erwartet wurde. „Wir müssen alles tun, um Marco zu schützen“, sagt sein Verteidiger Matthias Waldraff. „Er braucht den Schutz dringend.“

Selbstverständlich kehre Marco in die Türkei zurück, wenn der Prozess am 1. April in Antalya fortgesetzt werde, betonte der Verteidiger. „Marco legt großen Wert darauf, dass seine Ehre wiederhergestellt wird und das Verfahren mit einer vollständigen Rehabilitierung endet.“ Daher werde er sich keineswegs zuvor zu dem laufenden Verfahren äußern.

Das Medieninteresse ist gigantisch. Das Haus von Marcos Eltern wird von Kameras belagert. Magazine sollen lukrative Exklusivverträge angeboten haben, Talkshoweinladungen gibt es zuhauf.

Bereits während seiner Haftzeit ist Marco zu einem Superstar geworden. Lieder wurden für ihn geschrieben, T-Shirts mit seinem Konterfei produziert. Uelzens Bürgermeister Otto Lukat (SPD) hätte durchaus Verständnis dafür, wenn Marco nun von dem Medienrummel auch ein wenig profitieren würde. „Eine kleine Aufwandsentschädigung dürfte schon drin sein“, scherzt der Bürgermeister, der jedoch nicht an einen triumphalen Empfang für den Heimkehrer denkt. „Es steht uns nicht an, uns auf seine Kosten zu profilieren“, sagt Lukat. „Wir richten uns nach der Familie.“ Nach einem städtischen Freudenfest mit Autokorso und Dankgottesdienst ist Uelzen am Sonnabend bereits wieder zum vorweihnachtlichen Alltag zurückgekehrt.

Fraglich ist, wann Marco wieder ins Alltagsleben zurückfindet. Unklar ist, wie es mit seiner schulischer Laufbahn weitergeht. Er hatte zuletzt die zehnte Klasse einer Uelzener Grund- und Hauptschule besucht, um die mittlere Reife zu erwerben. Doch seine einstige Klasse existiert seit den Sommerferien nicht mehr. Im türkischen Gefängnis studierte er Fachbücher, um das versäumte Pensum auszugleichen. Seine Lehrer haben ihm Unterstützung zugesagt. Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass Marco an seiner alten Schule bald die Schulbank drücken wird – der Medienstar als Wiederholer.

Heinrich Thies[Uelzen]

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