zum Hauptinhalt

Psychologische Forschung: Ein Amoklauf passiert niemals spontan

Psychologin Rebecca Bondü hat an der Freien Universität Gründe und Risikofaktoren für School Shootings ausgewertet.

Es ist zehn Jahre her, dass der Schüler Robert Steinhäuser mit einer Waffe das Gutenberg-Gymnasium in Erfurt betrat und bei einem Amoklauf 16 Menschen tötete, darunter zwölf Lehrer und zwei Schüler. Das Massaker von Erfurt war einer der schwersten Fälle dieser Art in Deutschland und provozierte in der Öffentlichkeit eine lange Diskussion: Trifft Steinhäusers Eltern eine Mitschuld oder vielleicht die Lehrer? War der Schulverweis, der gegen den Jungen nach einer gefälschten Krankheitsbescheinigung ausgesprochen wurde, nicht die richtige Methode, mit dem damals 18-Jährigen umzugehen? Hat das Gesetz versagt, die Schule, das ganze System? Und warum hat niemand von den Plänen gewusst?

Die Psychologin Rebecca Bondü hat sich an der Freien Universität im Rahmen des „Berliner Leaking-Projekts“ zu School Shootings mit dem Amoklauf von Erfurt und weiteren Schulmassakern befasst. Das Wort „Leaking“, zu Deutsch: Durchsickern, geht auf die Theorie zurück, der zufolge ein Amoklauf sich über konkrete Anzeichen ankündigt, etwa durch eine ausgesprochene Drohung oder eine über das Internet verbreitete Gewaltfantasie. In ihrer Doktorarbeit hat die 32-jährige Psychologin staatsanwaltschaftliche Akten von Amokläufen in deutschen Schulen zwischen 1999 und 2006 ausgewertet, um ein profundes Bild von den Schützen zu bekommen und zu ergründen, ob zuvor Indizien existierten, die auf die Vorfälle hätten hinweisen können.

„Tatsächlich ist zu beobachten, dass es immer Vorankündigen gab. Niemals war es so, dass die Tat spontan ausgeführt worden ist“, sagt Rebecca Bondü. Obwohl sich die Fälle in ihrem Ablauf und in den Motiven unterscheiden, gab es bei allen Tätern – ob in Erfurt oder in Winnenden – klare Vorzeichen, die das soziale Umfeld hätten stutzig machen können. „Beispielweise fanden verbale Ankündigungen statt, es wurden Zeichnungen und Schriftstücke erstellt. Es gab Filme und Fotos, die verbreitet wurden, teilweise auch über das Internet.“ Diese Art, Vorzeichen zu senden, wird in der Fachsprache als „direktes Leaking“ bezeichnet. „Indirektes Leaking“ finde etwa dann statt, wenn ein Schüler ein besonderes Interesse für sogenannte School Shootings entwickelt, für Waffen und für Fälle aus der Vergangenheit. „Leaking kann viele Formen annehmen und sich über Jahre erstrecken. Es ist wichtig, dass Lehrer und andere Vertrauenspersonen diese Anzeichen registrieren.“ Trotzdem weist Bondü darauf hin, dass es keine eindeutigen Kriterien gibt, um potenzielle Amokläufer zu identifizieren. Sie warnt davor, pauschale Urteile zu fällen. Meistens seien mehrere Faktoren ursächlich; das müsse man bei der Präventionsarbeit berücksichtigen. Das Verbot von aggressiven Computerspielen oder die Verschärfung des Waffengesetzes – all dies seien zwar wichtige Ansatzpunkte, um die subjektive Sicherheit zu erhöhen, für sich genommen reichten sie aber nicht. Die Ursache für Amokläufe bleibe unberührt.

Doch was ist die Ursache? Eine erste Erklärung drängt sich auf, wenn man die School Shootings aus Deutschland mit jenen aus den USA vergleicht, wo zwei Drittel aller weltweit bezifferten Vorfälle auftreten. In ihrer Doktorarbeit hat die Psychologin festgestellt, dass die bisherigen Schul-Attentate in den USA meistens gegen Mitschüler gerichtet waren. Mobbing unter Schülern könnte also einer der Gründe sein. In Deutschland hingegen waren in erster Linie Lehrer das Ziel der Schützen. Darüber hinaus waren viele der deutschen Täter ehemalige Schüler, die an ihre alte Schule zurückkehrten, um den Amoklauf zu vollziehen – mit anschließendem Suizid. Vieles spricht dafür, dass in den Vereinigten Staaten vor allem Konflikte zwischen Schülern eine Rolle spielen, während sich die Täter in Deutschland oftmals für eine vermeintlich erfahrene Ungerechtigkeit rächen wollen, für die sie die Lehrer verantwortlich machen. Auch Robert Steinhäuser fühlte sich während seiner Schulzeit ungerecht behandelt, wie die Ermittlungen nach der Tat ergaben. „Es geht hierbei um eine subjektiv empfundene Ungerechtigkeit“, sagt Rebecca Bondü, „sie muss nicht mit der Realität übereinstimmen.“

Auch im europäischen Vergleich lassen sich Unterschiede ausmachen: In Polen beispielsweise kam es noch nie zu einem Amoklauf in Schulen, während es in Frankreich mehrere Attentate gab und weitere geplante verhindert werden konnten. Das dünn besiedelte Land Finnland wiederum war Schauplatz von bereits drei Amokläufen. Rebecca Bondü erklärt sich die Unterschiede durch die mediale Aufmerksamkeit, die den Vorfällen zuteil wird. Einige Amokläufer studierten alte Fälle und identifizierten sich mit den Tätern, was zu einer Art Teufelskreis führe: „Dort, wo schon School Shootings stattfanden – wie in Deutschland und Finnland –, wächst offenbar die Wahrscheinlichkeit weiterer Anschläge.“ Trotz aller Gefahr will die Psychologin keine Panik verbreiten: „Man muss bedenken, dass insgesamt sehr wenige School-Shooting-Fälle zu verzeichnen sind, deswegen ist es schwierig, von konkreten Risikoprofilen zu sprechen. Nur ein subtiles Präventionssystem kann die Lösung sein.“ Die Spezifika bei den Vorfällen zeigen, dass die Defizite in Deutschland vor allem in der Pädagogik liegen. Dies ist wenig verwunderlich, da fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse zu Risikofaktoren von Amokläufen bislang rar sind und somit noch gar keinen Eingang in die Ausbildung von Lehrern oder Schulpsychologen gefunden haben. Entsprechend gebe es in vielen Schulen in Deutschland keinen direkten Ansprechpartner, der Informationen über gefährdete Schüler sammeln könnte, sagt Rebecca Bondü. Negative Entwicklungen würden oftmals übersehen, anstatt zentral gesammelt und ausgewertet zu werden. Auch den Schülern fehle eine Instanz, an die sie sich wenden können, wenn sich ein Mitschüler merkwürdig verhält oder einen Amoklauf ankündigt. Dabei sei die Auswertung solcher Vorzeichen bei der Prävention entscheidend. Das Präventionsprogramm „Networks against School Shootings“ (Netwass), das von Professor Herbert Scheithauer an der Freien Universität betreut wird, soll Lehrern dabei helfen, auffällige Verhaltensweisen bei Schülern frühzeitig zu erkennen und mit Konfliktfällen richtig umzugehen (siehe Artikel auf dieser Seite). Das ist der Grund, warum Rebecca Bondü die Bildung von schulischen Netzwerken empfiehlt: Nur wenn Lehrer, Schüler und Eltern eng zusammenarbeiten und sich gegenseitig über psychisch gefährdete Mitschüler informieren, lässt sich das Gewaltrisiko an Schulen auf lange Sicht verringern.

Leonard Fischl

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false