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Psychotherapeut: "Wer so etwas erlebt hat, will einen Schuldigen haben"

Der Psychotherapeut Georg Pieper sprach mit dem Tagesspiegel über Wege, wie Betroffene der Loveparade-Katastrophe in Duisburg mit dem Geschehenen umgehen können.

Die Bilder, die die Menschen in Duisburg sehen mussten, erfüllen auf jeden Fall die Kriterien eines Traumas. Das ist eine außergewöhnlich bedrohliche Situation, in der Menschen zu Tode kommen, man selber Todesangst hat oder ernsthafte Verletzungen erleiden muss. Danach können Menschen eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung oder eine Traumafolgestörung entwickeln.

Nicht jeder, der solche Extremsituationen erlebt, entwickelt eine Störung. Wie merkt ein Betroffener, dass er betroffen ist?

Die Besucher werden wahrscheinlich in den ersten Tagen und Wochen unter Schlafstörungen, Panikgefühlen und Schockzuständen leiden, sie werden nervös sein, diese schlimmen Bilder vor dem inneren Auge haben oder davon träumen. Das sind in den ersten Wochen normale Reaktionen auf ein schlimmes Ereignis. Wenn diese Symptome aber länger als vier Wochen bestehen, dann sprechen wir von einer behandlungsbedürftigen Störung.

Sie halfen bereits den Betroffenen nach dem Bahnunfall in Eschede 1998 und nach dem Amoklauf eines Schülers in Erfurt 2002. Gibt es bei der Aufarbeitung solcher Extremsituationen Unterschiede?

Die Psychologen unterscheiden bei solchen Situationen zwischen Naturkatastrophen, technischen Katastrophen und solchen, die durch Menschen verursacht wurden. Naturkatastrophen verarbeiten Menschen eher als technische, wie etwa einen Flugzeugabsturz. Am schwersten zu verarbeiten sind von Menschenhand verursachte Ereignisse, wie der Amoklauf in Erfurt. Das Ereignis in Duisburg lässt sich nicht eindeutig einordnen, aber es gibt Schuldvorwürfe gegen die Organisatoren. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: In einer Massenpanik ist man handlungsunfähig.

Wie schwer wiegt der Umstand, dass Menschen bei ihrer Flucht über am Boden liegende Menschen steigen mussten?

Einige Menschen fühlen sich bei diesem Ereignis wie Täter. Sie machen sich dafür verantwortlich, dass sie etwas getan haben, was sie nicht wollten. Obwohl das letztlich irrationale Schuldgefühle sind, leiden die Betroffenen sehr darunter.

Die Stadt und die Organisatoren weisen sich gegenseitig die Schuld zu. Was bedeutet das für die Betroffenen?

Das macht die Betroffenen sehr wütend und hilflos. Wer so etwas erlebt hat, will einen Schuldigen haben. Er glaubt, dass er sich dann besser fühlen würde, auch wenn das meistens nicht der Fall ist. Für die Beruhigung dieser Situation wäre es also von Vorteil, wenn man bald Verantwortliche nennen könnte. Hat man diese gefunden, sollten die Verantwortlichen sich eindeutig entschuldigen, Fehler eingestehen und ihr Beileid bekunden.

Wie die Schuldzuweisungen gehen auch die Aussagen, was passiert ist, auseinander. Wie erleben die Betroffenen das?

Häufig gibt es viele Wahrheiten. Vom psychologischen Aufarbeitung ist die subjektive Wahrheit entscheidend, Menschen sollten diese verarbeiten. Es hilft ihnen nichts, zu hören, dass es gar nicht so war, wie sie es erinnern. Andere Meinungen verunsichern die Menschen dann eher und bringen sie davon ab, sich mit ihren Eindrücken und ihrem individuellen Schmerz auseinander zu setzen.

Kurz nach den Ereignissen kursierten Videos und Diskussionen im Internet. Wie sehen Sie diese virtuelle Aufarbeitung?

Positiv ist, dass über die Ereignisse geredet wird und dass Menschen so die Gelegenheit haben, über Dinge zu schreiben, mit denen sie alleine nicht klar kommen würden. Aber ich sehe es negativ, dass sich dadurch eine Art Sog, auch durch die Macht der negativen Bilder, entwickelt. Von diesem Sog können sich junge Menschen oft nicht distanzieren. Man kennt das von Nachahmungstaten. Wenn es sich um sehr schlimme Bilder handelt, haben diese möglicherweise schon an sich eine traumatisierende Wirkung. Nach dem ICE-Unglück von Eschede haben wir herausgefunden, dass Angehörige, die die Bilder der Unglücksstelle im Fernsehen gesehen haben, die gleiche Traumatisierungsrate aufgewiesen haben wie Menschen, die im Zug saßen. Die Macht der Bilder sollte man nicht unterschätzen.

Georg Pieper ist Psychotherapeut und betreibt bei Marburg in Hessen eine Praxis für Traumabewältigung. Das Gespräch führte Katharina Kühn.

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