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Reise: 30 Sekunden an Ludwigs Bett

Eine Führung durch Schloss Neuschwanstein dauert nicht mal eine halbe Stunde. Anders wird man dem Ansturm der Besucher nicht Herr

Tour 439 beginnt um 11 Uhr 15. Auf die Minute gibt die Anzeigetafel das Drehkreuz für die Gruppen 437-438-439 frei. Eine kurze Wartezeit, dann dürfen 65 Besucherinnen und Besucher in die Schlossräume. Die Führerin trägt Jeans und einen blauen Pulli, sie redet nicht sehr laut. 1,90 Meter groß war er, der König, sagt sie unter seiner Marmorbüste. Und gerade mal 172 Tage habe er sich in Neuschwanstein aufgehalten. Dann beginnt im Thronsaal der Rundgang.

Braune Säulen, goldschimmernde maurische Bögen, ein blauer Sternenhimmel – orientalische Pracht, das ist der erste Eindruck. „König Ludwig der Zweite ließ diesen Thronsaal im Stil einer byzanthinischen Kirche erbauen, mit ihm wollte er seiner Königswürde Ausdruck verleihen“, sagt die Führerin. Dann weist sie auf die Treppe aus weißem Carrara-Marmor hin, den nicht vorhandenen Thron, dessen Bestellung die Familie nach Ludwigs Tod storniert habe, die Gemälde der sechs heiliggesprochenen europäischen Könige. Zur besonderen Beachtung empfiehlt sie das kleine Schloss auf dem St.-Georgs-Bild: So hätte Ludwigs viertes Traumdomizil, Falkenstein, aussehen sollen. Dann wäre da noch der Kronleuchter aus vergoldetem Messing, eine Tonne schwer und mit 690 Kerzen bestückt. Der Mosaikboden schließlich, der aus zwei Millionen Steinchen zusammengesetzt wurde, darf als ein „Meisterstück der Handwerkskunst“ gelten. Von denen gibt es noch einige zu bestaunen – also weiter jetzt, bitte, und, ach ja: Fotografieren ist nicht erlaubt im Schloss!

So geht es nacheinander durch Speisezimmer, Schlafzimmer, Ankleidezimmer, Wohnzimmer und Arbeitszimmer des Königs bis in den Sängersaal im vierten Stock. Fünf, sechs Sätze zu jedem Raum müssen genügen: „An dem Baldachin über Ludwigs Bett haben 15 Holzschnitzer vier Jahre lang gearbeitet.“ – Im Büro seines Adjutanten stand Deutschlands erstes Telefon.“ – „Die einzigartige Akustik des Sängersaals beruht auf der trapezförmigen Fichtenholz-Kassettendecke.“ Jeder Satz klingt wie in ehernen Lettern gegossen.

Nach 25 Minuten ist der Rundgang beendet. Und was bleibt haften beim Besucher? Ein bunter Bilderbogen aus Brokat, goldbestickten Seidentapeten, Wandgemälden von Sagenhelden und filigranen Möbeln. Architektur als große Oper – ach ja: „Jeder Raum ist einem der Werke Richard Wagners gewidmet.“

25 Minuten nur – aber wie soll es auch anders funktionieren? Schließlich begehren jedes Jahr an die 1,3 Millionen Besucher Einlass in Ludwigs Märchenwelt – zwischen 4000 und 8000 Personen am Tag. Alle fünf Minuten startet eine Führung. Nur vier Tage im Jahr ist geschlossen. Etwa 50 Führerinnen und Führer sind im Einsatz.

Früher ging es hier sicher ruhiger zu? Josef Enzensperger hat von 1965 bis 2000 als Führer und später als oberster Beamter, als „Kastellan“, auf dem Schloss gearbeitet. Als er seinen Dienst antrat, hatte Neuschwanstein 400 000 Besucher, im Rekordjahr 1990 waren es 1,4 Millionen. „Wenn genügend Zeit war, haben wir immer darauf geachtet, dass eine Führung 45 Minuten dauerte“, erinnert sich der weißhaarige Pensionär. Damals durften die Gäste auch auf den Balkon hinaustreten und den „Paradiesblick“ über Alpsee und Schwansee genießen: Da draußen, das östliche Allgäu – das war Ludwigs Land. Hierher flüchtete er, in die Stille und in die glanzvolle Selbstinszenierung, wenn ihn das Hofleben in München wieder einmal anekelte. Im Zimmer des Kammerdieners erfuhren sie, dass es sich bei der scheinbaren Truhe um eine aufklappbare Bettcouch handelte. Und im Thronsaal lernten sie die heiligen Könige mit Namen kennen: „Von links gesehen, Kasimir aus Polen, Stefan aus Ungarn, Heinrich aus Deutschland...“

Man kann einiges mehr über Neuschwanstein erzählen, als es heute geschieht. „Aber wissen Sie was“, sagt Enzensperger nachdenklich, „ich glaube, es spielt keine Rolle. Die Menge an Informationen, die ein Mensch aufnehmen kann, ist begrenzt. Und die meisten Besucher wollen eigentlich nur schauen und staunen.“

Einer bleibt bei diesem Besuch in Neuschwanstein immer seltsam unscharf: Der Urheber des ganzen Rummels, „unser armer Kini“ selbst. Das bemängelte auch Erih Gößler, solange sie als Schlossführerin arbeitete. „Dieses schnelle Durchhecheln und immer die Massen auf Tuchfühlung, das war mir irgendwann zu viel“, sagt die selbstbewusste Wahl-Schwangauerin im Dirndl, die sich in heißen Sommern ihre Gruppen schon mal mit einer ordentlichen Portion Knoblauch wenigstens einen Meter vom Leib hielt. „Man konnte der Person Ludwig einfach nicht gerecht werden.“

Und dann beginnt sie aus dem Stand ein Plädoyer für den Missverstandenen, ganz ohne Schwärmerei und Pathos, während das Abendläuten der Füssener Kirche jeden ihrer Sätze klingend untermalt. „Ludwig hat seinen Platz in der Welt nie gefunden. Er stand mit einem Fuß in der Vergangenheit, mit dem anderen in der Zukunft.“ Als mittelalterlicher Parzival sah er sich, der nach Reinheit strebte, und er ärgerte sich gleichzeitig, dass Leonardo da Vincis Fluggerät immer noch nicht erfunden war. Er war herzlich zu einzelnen Menschen und hatte Riesenangst, wenn sie in Massen auftraten. Ein Träumer war er – und ein klarer Geist. „Dazu katholisch, König und homosexuell“, seufzt Erih Gößler. „Wie könnte ein einzelner Mensch damit zurechtkommen?“

Also baute er sich seine Traumwelt, die die Wirklichkeit für immer ausschließen sollte. „Seinen Diener hat er angewiesen: ,Pass mir gut auf mein Schloss auf. Lass es nicht profanisieren und bevölkern von Neugierigen!‘ Und was haben sie gemacht? Sechs Wochen nach seinem Tod wurde das Schloss für Besucher geöffnet.“

Seitdem sind rund 65 Millionen Menschen hindurchgezogen. Sie haben gestaunt, gestrahlt, gekichert und den Kopf geschüttelt: Dieser Schöngeist, dieser Wirrkopf, dieser Phantast. Letztlich aber ist Ludwig II. ihnen ein Rätsel geblieben.

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