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Allgaeu

© Winfried Dulisch

Allgäu: Wandern mit dem Wasserschmecker

"Entschleunigen“ heißt die Zauberformel im Allgäu – bei Wünschelrutengängern und Kräuterfeen.

Wer versucht, von Niedersonthofen aus mit dem Handy in die weite Welt oder nur innerhalb Bayerns zu telefonieren, wird schwer enttäuscht sein. Nichts geht. Dort im Allgäu gibt es nämlich (fast) im gesamten Ort kein Handynetz. Also, nahezu ideale Voraussetzungen für alle, die Erholung suchen. Für alle, die fernab vom Alltagsrummel wieder zurück zu sich selbst und zur Natur finden möchten. Entschleunigen ist das Wort der Stunde. Und wer hier ankommt und bleibt, der kann gar nicht anders.

Der Weg zu diesem Ort des Luxus führt von Norden aus über die A 7 durch das „Allgäuer Tor“. Der Gebirgsdurchbruch öffnet den Blick auf die „Hauptstadt“ des Allgäus, Kempten, und das dahinterliegende sattgrüne Alpenvorland. Keine 20 Minuten später erreicht der Autofahrer – die Bahn wird dem Umweltbewussten keine Verbindung nennen können – den liebevoll angelegten Kräutergarten im Zentrum von Niedersonthofen, das im vergangenen Oktober den Titel „Allgäuer Kräuterdorf“ zuerkannt bekam.

Der Besucher betritt diesen kleinen Park durch das sogenannte Kräutertor. Es wurde nach den Vorstellungen von Leonardo da Vinci als eine sich selbst tragende Konstruktion ohne Schrauben und Nägel verwirklicht. Das Bauholz stammt aus den Wäldern rund um Niedersonthofen, musste also keine die Umwelt belastenden weiten Wege zurücklegen.

Das ist ganz im Sinne von Ingrid Günther. Als Gastronomin verwendet sie in der Küche ihres Kräuterlandhauses Geratser Hof selbst überwiegend Allgäu- Produkte. Und auch bei ihren Hotel- und Gastronomie-Kollegen in der Nachbarschaft hat sie nie locker gelassen und jahrelang dafür geworben: „Sanfter Tourismus beginnt damit, dass wir uns als Gastgeber auf unsere Region besinnen und unseren Besuchern ein Vorbild sind.“ Folgerichtig gründete sie mit Gleichgesinnten den Allgäuer Kräuterland-Verein.

Dieser Zusammenschluss hat strenge Richtlinien festgelegt für Übernachtungsbetriebe, die mit seinem Gütesiegel werben möchten: Sie müssen sich identifizieren mit dem Thema Heil- und Küchenkräuter, Verständnis und Grundwissen über Kräuter nachgewiesen haben und vom DTV (Deutscher Tourismusverband) oder Dehoga (Hotel- und Gaststättenverband) klassifiziert worden sein. Und als wichtigste Voraussetzung: Jeder Kräuterlandbetrieb muss über einen „Heil- und Kräutergarten mit mindestens 30 Wild- und Gartenkräutern, die biologisch angebaut sind“, verfügen. Ingrid Günther: „Auf diesem Nährboden blühen eigentlich erst die Ferienerlebnisse, die als nachhaltig wirksames Souvenir mit nach Hause genommen werden können.“

Produzentin solcher Souvenirs ist auch Bärbel Bentele. Bevor sie gemeinsam mit den Teilnehmern ihrer Kräuterwanderung jene Stoffe sucht, aus denen die Urlaubsträume werden können, stellt sie sich den Mitwanderern vor: „Ihr könnt gerne Bärbel zu mir sagen. Aber nennt mich bitte nicht Kräuterhexe.“ Bärbel versteht sich eher als eine Kräuterfee, die das Wissen der heutigen Medizin gleichberechtigt neben mystischen Überlieferungen aus alten, verwunschenen Zeiten an die Allgäu-Touristen weitergibt. Und es wirkt.

Die Kräuterfee pflückt ein violettes Pflänzchen. „Salbei hilft mir bei Verdauungsbeschwerden, Halsschmerzen und Husten. Er eignet sich auch gut für einen leichten Sommertee.“ Oder Thymian. „Wird gerne bei Erkältungen eingesetzt.“ Wenn ein Teilnehmer ihrer Bergwanderung über Schmerzen im Knie klagt, sucht Bärbel am Wegesrand nach dem sogenannten Beinwellkraut. Dessen Wurzel hält, was der Kräutername verspricht. „Leg’ Dir diese Beinwellwurzel auf die schmerzende Stelle.“ Es wirkt. Sogar nachhaltig. Am Tag nach einer Wanderung mit Bärbel spürt der ungeübte Mitwanderer schmerzhaft jeden Muskel und jeden einzelnen Knochen – außer im Knie.

Bärbel Bentele verdankt einen Teil ihres Wissens einer Ausbildung beim Allgäuer Kräuterland e. V. Ein Jahr lang lernte sie dort praktische Inhalte wie Heilpflanzenkunde, kulinarische Spezialitäten und Lebensmittelhygiene. Ebenfalls auf dem Stundenplan: Allgäuer Brauchtum, Mystik und Sagenwelt. Damit die Kräuter ihre Wirkung auf Einheimische wie auch auf die Feriengäste noch besser entfalten können, erzählt Bärbel im Anschluss an ihre Drei-Stunden-Wanderungen gerne – nicht nur wegen der Kinder – eine ihrer Geschichten, die sich vor langer, langer Zeit im Allgäu zugetragen haben. Und noch eine Geschichte. Und – bitte, bitte – noch eine. Und es wirkt.

Gabi Prinz ist weder Fee noch Hexe, sondern eine „Kräuterlandhofbäuerin“. Dazu hat sie sich ebenfalls qualifiziert durch einen Lehrgang, „aber das meiste Kräuterwissen hat mir meine Großmutter mitgegeben“. Die ehemalige Floristin reanimiert mit ihrem Wissen vor allem das Auge, die Nase und die verkümmerten Geschmacksnerven ihrer Besucher. Ihr Kräutergarten ist sozusagen eine Open-Air- Lehrstube: „Dort drüben den Spitzwegerich hat meine Oma uns immer bei Insektenstichen verabreicht.“ Und was hilft gegen Atembeschwerden? „Majoran. Und mit Johanniskrautöl hat meine Großmutter Wunden geheilt. Die Generation unserer Eltern schluckt heute lieber Aspirin.“

Die Pharmaindustrie vollendet jenes Werk, das die katholische Kirche vor allem in bäuerlich-ländlichen Regionen wie dem Allgäu begonnen hatte. Viele Frauen – und auch Männer – endeten auf den diversen Scheiterhaufen der Inquisition, weil sie in den Hecken („Hexe“ ist möglicherweise davon abgeleitet) nach Kräutern gesucht hatten. Doch 300 Jahre später schaut auch schon mal der Pfarrer bei Gabi Prinz vorbei und lässt sich ein heilsames Kraut aus Gottes reichem Angebot empfehlen.

Das Kräutersammeln war und ist eine Frauendomäne. Männer hatten sich spezialisiert auf das Wasserschmecken. „Schmecken“ ist das allgäuische Wort für „entdecken, aufspüren“. Auf einer rund 8000 Jahre alten Höhlenzeichnung ist diese Tätigkeit bereits überliefert. Der Wünschelrutengänger Fritz Eiba ist also kein neumodischer Esoterik-Guru, sondern er pflegt ein uraltes Handwerk. Seine Berufskollegen suchten schon vor Jahrhunderten erfolgreich nach Felswasserquellen oder bestimmten die idealen Standorte für die Neuansiedlung von Bauernhöfen oder ganzen Ortschaften.

Die meisten Teilnehmer seiner Wasserschmecker-Wanderung sind skeptisch, wenn Fritz Eiba behauptet: „Nur 60 Prozent aller Menschen können mit einer Wünschelrute unterirdische Wasseradern aufspüren.“ Trotzdem nimmt jedes Kind und jeder Erwachsene neugierig eine Wünschelrute (aus Plastik!) in Empfang und will es sofort ausprobieren. „Nein, nein – erst einmal gaaaaaaanz ruuuuuuuhig werden und mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen.“ Dann die beiden Stränge der Wünschelrute übereinanderkreuzen, locker zwischen den Fingern halten – und schon beginnt bei einem der Kinder die Wünschelrute zu zappeln. Dann auch bei einem Erwachsenen. Schließlich klappt es bei elf von 14 Teilnehmern, das macht sogar mehr als 70 Prozent.

Ausgerechnet jener Mitwanderer, dessen Wünschelrute sich nicht bewegen wollte, erkennt als Erster den Wert von Fritz Eibas Arbeit. Dort, wo die übrigen Wünschelruten-Amateure eine Wasserader aufgespürt hatten, bekommt er Herzschmerzen – die auch sofort wieder verschwinden, wenn er sich zwei, drei Meter von dieser Stelle entfernt. Und er wird als Souvenir von diesem Urlaubstag die Erkenntnis mit nach Hause nehmen, dass er endlich mal jene störenden Wasseradern aufspüren sollte, die irgendwo unter seinem heimischen Bett fließen müssen.

Damit ist ein idealer Urlaubstag im Allgäuer Seenland schon beschrieben: Nach dem Frühstück kommt die Kräuterwanderung mit Bärbel Bentele, danach eben mal reinschauen zum Kräuterblumenbinder-Workshop bei Gabi Prinz, bleibt anschließend immer noch Zeit genug für einen Spazierlehrgang mit dem Wasserschmecker Fritz Eiba. Bei diesen drei Schnellkursen können von Hektik und Termindruck geplagte Großstädter theoretisch an einem einzigen Tag ihr gesamtes Leben entschleunigen. Theoretisch.

Winfried Dulisch

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