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Reise: Am Fuße des Jadedrachens

Auf dem Nonstop-Flug von Deutschland nach Hongkong liegt China unter einer dichten Wolkendecke – ein Anlass, die Lektüre von „Lost Horizon“ fortzusetzen. Der utopische Roman des Engländers James Hilton schildert die Entführung von drei Europäern, darunter einer englischen Missionarin und einem Amerikaner; Ziel ist ein Lama-Kloster, ein Shangri-la, das die geistigen Schätze der Menschheit aufbewahrt, aber vom Aussterben der Mönche bedroht ist.

Auf dem Nonstop-Flug von Deutschland nach Hongkong liegt China unter einer dichten Wolkendecke – ein Anlass, die Lektüre von „Lost Horizon“ fortzusetzen. Der utopische Roman des Engländers James Hilton schildert die Entführung von drei Europäern, darunter einer englischen Missionarin und einem Amerikaner; Ziel ist ein Lama-Kloster, ein Shangri-la, das die geistigen Schätze der Menschheit aufbewahrt, aber vom Aussterben der Mönche bedroht ist.

„Herrjeh, ist das eine Landschaft!“, ruft einer der Entführten, die darüber rätseln, ob sich das Flugzeug noch über Indien oder schon über Tibet befindet. Das Buch, wiederholt aufgelegt und zweimal verfilmt, war in den dreißiger Jahren ein Weltbestseller. Es spricht die Sehnsucht nach einem friedvollen Ort in einer Welt der Kriege und Katastrophen an. Im deutschen Sprachraum kam es zunächst unter dem Titel „Irgendwo in Tibet“ heraus.

Hilton verortet das Kloster in einer traumschönen, geheimnisvollen Gegend Osttibets – aus diesem Mythos schlägt nun die Volksrepublik China kräftig Kapital. Sie öffnete Osttibet und den lange verschlossenen Nordzipfel Yunnans dem Tourismus und verlieh dem Gebiet um Zhongdian und Deqin – wie auch dem modern ausgebauten Flughafen – die Bezeichnung Shangri-La. Das Wort ist ein Synonym für den Garten Eden, und Yunnan (gesprochen Yünnan) gilt unter Chinakennern als die schönste Provinz des Riesenlandes. Seit langem ist sie Siedlungsgebiet tibetischer und burmesischer Volksstämme. Schon vor der maoistischen Kulturrevolution waren Han-Chinesen und Mongolen als Soldaten und Verwalter in die abgelegene Provinz gekommen. Europäische Forschungsreisende wie Sven Hedin und Wilhelm Filchner hatten die Randgebiete des Tibetischen Hochlands erkundet.

Es kamen fantasievolle Schriftsteller, erfanden imaginäre Orte wie Hiltons Shangri-la, dazu weise, uralte Mönche, die sich Klosternachwuchs durch Entführungen besorgen lassen.

Zhongdian liegt 3300 Meter hoch. Die Luft ist kristallklar, die Sonne brennt auf der Haut, eine Creme mit hohem Lichtschutzfaktor ist angeraten. Die Landschaft ist karg – ein starker Kontrast zum tropischen Süden Yunnans und dem „ewigen Frühling“ der Provinzhauptstadt Kunming.

Das neueste Luxushotel nennt sich „Holy Palace“, es vereint tibetanische Stilelemente, innen glänzen Granit und Marmor. Im Foyer stehen sechs Standuhren, sie zeigen die Zeit verschiedener Hauptstädte der Welt an, einschließlich der für alle chinesischen Provinzen verbindlichen Standardzeit Pekings.

In den ziemlich dunklen Zimmern findet der Gast ein Doppelbett, einen Heißwasserautomaten für Tee oder Kaffee und zwei Sauerstoffflaschen. Im Badezimmer wie auch an der Rezeption liegen Kondome aus.

Noch vor Sonnenuntergang monieren ausländische Gäste ein spürbares Übel: Es ist eiskalt im Hotel. Und so wird es erst mal auch bleiben. Es kommt zu Verständigungsschwierigkeiten mit dem Hotelpersonal, das offenbar „eating“ mit „heating“ verwechselt. Kein Wunder, dass sogar Gäste einer großen Hochzeitsgesellschaft im Restaurant ihre Allwetterkleidung nicht ablegen.

Die Läden in der Neustadt, darunter eine Playboy-Boutique, stellen westliche Mode zur Schau. Brautkleidung international üblichen Zuschnitts kann geliehen werden, junge Männer tragen größtenteils Jeans und Kunstlederjacken.

Ein anderes Bild ergibt ein Gang durch die Altstadt, wo stattliche, zum Teil restaurierte Holzgebäude und Karawansereien an den früheren Teehandel zwischen China und Tibet erinnern. Unter Holzsäulen, auf Veranden und in Innenhöfen haben gemütliche Gaststätten, Tee- und Kaffeestuben geöffnet. Souvenirläden bieten altes Kunsthandwerk, mehr oder weniger abgetragene Stammeskleidung tibetanischer Volksgruppen, Gebetsmühlen und Yakschwänze an. Auf einem Hügel steht eine turmartige, drehbare Gebetstrommel aus vergoldetem Kupfer. In einem Tempel chinesischen Stils wird der Lange Marsch der Roten Armee nach Tibet dargestellt.

Allgemein wirkt die Altstadt tibetisch, die Neustadt wie ein Abklatsch westlicher Moderne – darin der weiter südlich gelegenen, überlaufenen, vom Touristenrummel erfassten Stadt Lijiang ähnlich, herrlich gelegen am Fuße des Jadedrachen-Schneegebirges und ausgezeichnet als Unesco-Weltkulturerbe.

In einem Kulturhaus außerhalb von Zhongdian wird Touristen so etwas wie Multikultur geboten, eine Mischung aus tibetanischer und han-chinesischer Folklore, Musik und Tanz mit zirzensischen Einlagen. Quingdao-Bier und lokale Schnäpse werden ausgeschenkt, die Stimmung erhitzt sich, und schließlich wird zu überdrehtem Beat getanzt.

Authentischen Volkstanz gibt es abends auf dem alten Stadtplatz zu sehen: Bewohner kommen aus den Gassen herbei, bilden einen Kreis und bewegen sich hüpfend drei Schritte vorwärts, zwei zurück zu Trommelschlag und Blasmusik. Im Dorf Sahe, einer Ansammlung von Gehöften um einen weiß getünchten Stupa, dem charakteristischen Kultbau buddhistischer Länder, erlaubt eine Bäuerin den Fremden, ihr Haus zu besuchen. Über eine Außenstiege im Hof betritt man auf Socken einen großen, teilweise holzgetäfelten Raum. Viel Platz nimmt eine von Steinen, Sand und Fliesen eingefasste Feuerstelle ein. Rußgeschwärzte Koch- und Tongefäße, zahlreiche Thermoskannen, Porzellanschalen, eine Wanduhr, ein bunt ausgeschmücktes Heiligenbild und ein Fernsehapparat bilden das Inventar. Hinter der Wand befinden sich die Schlafräume, liegen Matratzen und Wolldecken. Bis in das Gebälk hinauf sind schöne Schnitzereien angebracht. Das rustikale Ambiente macht die Wohlstandstouristen aus dem Westen glücklich, aus den lächelnden Gesichtern der Familienangehörigen lesen sie Zufriedenheit.

Dürftig ist die Dorfschule eingerichtet, eine Holzhütte ohne Heizung und Wassertoilette. Unterrichtssprache ist Mandarin, das auch in Shangri-la jeder, der es in der Volksrepublik zu etwas bringen will, in Wort und Schrift beherrschen muss. Unter den ethnischen Minderheiten Chinas, die in Yunnan ihre Hochburgen haben, ist die Landflucht angeblich am geringsten. In Zhongdian kommen im Spätsommer jedes Jahr Künstler aus den 250 Minoritäten zusammen. Im Juni werden Pferderennen veranstaltet.

Zhongdians touristische Hauptattraktion ist das Lama-Kloster Songzalin, gut zehn Kilometer außerhalb der Stadt in großartiger Berglage. Die fanatisierten Garden der Kulturrevolution hatten es wie viele andere Religionsstätten in Schutt und Asche gelegt. Bis zum Wiederaufbau in den neunziger Jahren war Zhongdian für Ausländer eine verbotene Stadt. Noch heute herrscht Stillschweigen über das Schicksal Zehntausender Mönche, die gefoltert oder getötet wurden oder in Arbeitslagern verschwanden. In chinesischen Prospekten wird man weder die Bezeichnung Klein-Tibet für Shagri-la noch einen Vergleich mit dem Potala in Lhasa finden. Der 5. Dalai Lama wird als Gründer des Klosters erwähnt, aber ein Bild von ihm wird nicht gezeigt.

Sollte der hinreißende Anblick der Klosterburg kritische Geister nicht verstummen lassen? Mit gemischten Gefühlen erklettert man die steile Klostertreppe, schweift ab zu den aus Einzelhäuschen bestehenden Wohntrakten der Mönche und Novizen und gerät auf dem Weg zu den oberen Tempelterrassen in Atemnot, schaut Pilgerritualen vor Stupas und Buddhafiguren zu, staunt über die Pracht der zentralen Residenzhalle, zieht weiter durch schummrige Korridore zu Gebetsräumen voller Buddha-, Götter- und Dämonenstatuen, bewundert bemaltes, kunstvoll geschnitztes Gebälk und genießt immer wieder das Bergpanorama.

In Songzalin leben wieder rund 700 Novizen und Mönche, fast so viele wie vor der Kulturrevolution. Die Klosterbrüder in ihren weiten rotbraunen Gewändern sprechen meist ein wenig Pidgin-Englisch, sie sind neugierig, lassen sich aber ungern fotografieren. Größtenteils kommen sie aus armen Familien entlegener Bergdörfer, wo es keine Traktoren und auch noch kein Satellitenfernsehen gibt. Die Eltern sind auf die Unterstützung ihrer Kinder angewiesen, vor allem deshalb hat Peking den Familien ethnischer Minderheiten mehr als jeweils ein Kind zugestanden. Es entspricht buddhistischer Frömmigkeit, männlichen Nachwuchs eine Zeit lang in ein Kloster zu schicken.

Allerorten in Shangri-la signalisieren Gebetsfahnen in Blau, Weiß, Rot, Grün und Gelb, dass das religiöse Leben unter der kommunistischen Herrschaft nicht erloschen ist. Die wiederaufgebauten Klöster haben in der pragmatischen Politik nach Mao Zedong ebenso viel Stellenwert wie die landschaftlichen Schönheiten Yunnans.

Der Ausbau des Tourismus geht üppig weiter. Inzwischen verbindet eine bis zu 5000 Meter hohe, asphaltierte Passstraße die Grenzstadt Deqin mit Zhongdian und Lijiang. Aus bewaldeten Gebirgszügen des Grenzlands ragen Spitzen solitärer Bergriesen hervor, besonders markant Meilixue Shan mit dem 6740 Meter hohen, religiös verehrten Kagbo-Gipfel, Yunnans höchstem Berg. Unzählige Serpentinen führen an jähen Abgründen entlang zur Tigersprung-Schlucht: Es ist die zweittiefste Schlucht der Welt. Zwischen fast 4000 Meter hohen Steilwänden braust der obere Jangtse seiner ersten großen Biegung bei Lijiang entgegen, um dann Kurs auf Chinas Ostküste zu nehmen.

Durch Sprengungen wurden Parkplätze für Kolonnen von Ausflugsbussen geschaffen. Verkaufsbuden, ambulante Souvenir-, Snack- und Getränkehändler, Sänftenträger, kostümierte Kinder säumen den Weg und eine Hundert-Stufen-Treppe hinunter zum Fluss. Hello-Rufe, „How are you?“ und „Take a picture of me!“ erschallen bis zu den wellenumspülten, legendären Felsen, über den einst ein Tiger im Doppelsprung seinen Verfolgern entkommen sein soll.

Agile Fotoarrangeure präsentieren im Handumdrehen kolorierte, gerahmte Schnappschüsse und Gruppenaufnahmen. Erst am Nachmittag scheint die Sonne in die schmale Schlucht. Waghalsige lassen sich zu Kletterpartien verleiten, während das Gros der Besucher von einem großflächigen Betonkai aus kurze Schiffstouren unternimmt. Zur Ruhe kommt man hier nicht. Es wird – wie überall in China – business gemacht. Die fortwährende Landschaftsverschandelung durch Sprengungen, Kahlschlag und Massentourismus wird denn auch hauptsächlich von den ausländischen Besuchern beklagt.

Fortsetzung von Seite R1

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