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Reise: Am Gipfel weißer Möglichkeiten

Der Kronplatz in Südtirol bietet Pisten in alle Himmelsrichtungen – für Skifahrer, Snowboarder und „Böckl-Fans“.

Zuerst sind da diese beiden Jungs unterm Plateau-Sessellift: Wie wendige Eichhörnchen wieseln sie zwischen den Skifahrern durch, merkwürdig geduckt. Aber worauf eigentlich? Ein zweiter, flüchtiger Blick schafft etwas Klarheit. Jeder von ihnen sitzt offenbar auf einem Ski. Doch der Sessellift schaukelt zu schnell aufwärts, daher bleibt für ein präziseres Luftbild dieser merkwürdigen Brettl-Hocker keine Zeit. Vorerst.

Oben angekommen bannt der Kronplatz fast magnetisch alle Blicke aussteigender Neuankömmlinge. Wo gibt’s das schon – ein 2275 Meter hoch gelegenes, tief verschneites Plateau, auf das bequem fünf, sechs Fußballplätze passen? Mit Gipfelrestaurant im Bahnhofshallen-Format, Après-Skihütten, einer kleinen Kapelle und einer 18 Tonnen schweren, gut drei Meter hohen Friedensglocke. Die läutet jeden Mittag, kurz nach zwölf Uhr und immer, wenn irgendwo auf der Welt die Todesstrafe abgeschafft oder ein Krieg beendet wird. „Dat is de Jipfel!“, entweicht es dem Mund von Jupp aus Bergisch-Gladbach angesichts dieser Szenerie. Er ist einfach überwältigt. Jupp sieht aus wie ein Double von Hobbythek-Moderator Jean Pütz, ist – ausweislich seines dicht bedruckten Overalls – erstens „Chefboss“ einer rheinischen Skitruppe namens „De Jecken“ und hat zweitens mit dieser offenbar schon viele Skigebiete unsicher gemacht.

Einer Südtiroler Sage nach soll hier oben Prinzessin Dolasilla gekrönt worden sein und dem Plateau seinen Namen gegeben haben. Die heutigen Kron-Juwelen dieses Skigebiets sind seine Pisten, deren Breite eine sechsspurige Autobahn spielend übertrifft. Enge Kurven? Schmale Ziehwege? „Hier jibbet nur Highways“, freut sich Jupp – „joot präpariert“.

In nahezu alle Himmelsrichtungen kann man vom Kronplatz hinunterschwingen. „Sylvester“ und „Hernegg“ etwa, zwei schwarze Pisten mit atemberaubendem Weitwinkel-Talblick nach Bruneck – die ideale Strecke für alle, die nach fünf Kilometern Steilwand-Carving an der Talstation ihre brennenden Oberschenkel spüren wollen – so wie die rheinischen Jecken.

Richtung Olang hingegen geht’s auf blauen und roten Hängen gemächlicher hinab. Unten im gleichnamigen Ort dann die nächste Begegnung mit der dritten Art: Nicht Alpin-Ski, nicht Langläufer, sondern wieder so ein Sitz-Flitzer. Diesmal noch vorm Start, also nichts wie hin zur erkennungsdienstlichen Behandlung. Paul Sapelza strahlt, als er auf sein Sportgerät angesprochen wird und präsentiert es stolz: Aha, ein Kinderski also, hinten abgesägt, mit draufgeschraubtem Hocker und zwei Griffen am Sitz. „Der Böckl“, erklärt Paul, „ursprünglich das einheimische Wort für den Melkschemel.“ Und schon hockt der 49-Jährige fröhlich drauf: „Vor 50, 60 Jahren hatten viele Bauern kein Geld für Ski und haben sich stattdessen die wendigen Böckl selbst gebastelt, um damit über verschneite Waldwege ins Tal zu fahren“, erzählt er.

Und genau das tut Paul, der sein Geld als Bergführer verdient, heute wieder: Bei seinen Schneeschuhtouren schnallt jeder Wanderer so einen etwa zwei Kilo schweren Böckl auf den Rucksack und genießt nach schweißtreibendem Aufstieg die Abfahrt – „zunächst mit skeptischem Blick und zusammengekniffenen Lippen, dann mit unbeschwertem Kinderlachen im Gesicht“, verrät Paul. Er stapft in den Tiefschnee davon, dreht sich noch mal um und ruft verschmitzt ein „Servus“ über seine Schulter.

An einem Wochenende im Februar wird Olang zu einer Art Bonsai-Kitzbühel für Böckl-Flitzer. Wegen des jährlichen Rennens, dem Hahnenkamm für Hocker-Herminatoren. Knapp 300 Teilnehmer – Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer – rasen da in verschiedenen Startkategorien die Panorama-Piste runter. Anschließend steigt die große Böckl-Party – und die Stimmung ist fast wie im Weltcup-Zirkus. Nur lustiger.

Da ist etwa das Racing-Team Steinhäuser am Start – Arno mit selbst gebautem, komplett aus Carbon bestehenden Hightech-Bock. Oder Böckl mit Originalteilen einer Harley Davidson. Und das Traditions-Renn-Team „Die geilen Böcke“, modisch auch abseits der Piste ganz vorn, in kohlrabenschwarzen Renn-Overalls. Darunter tragen sie angeblich nichts, „damit man frühmorgens nach der Böckl-Party schnell angezogen ist, falls man aus einem fremden Bett flüchten muss und damit man dortselbst abends schnell ausgezogen ist …“, wie es auf ihrer Internetseite heißt. Ins Rennen stürzen sich „die geilen Böcke“ auf gut gepolsterten Böckln und mit einem Schrei, den sie selbst als „verunglückten Jodelversuch gepaart mit Operngesang“ bezeichnen.

Wieder hoch ins weitläufige Skigebiet Kronplatz geht’s in einer modernen Stehgondel, quasi ein Hauptverkehrsmittel hier, in der die Menschen wie die Heringe stehen. Massen von Skifahrern und Snowboardern können so flott bergwärts transportiert werden. Schlepp- und Sessellifte gibt’s fast gar nicht mehr, Warteschlangen kaum.

Verbesserungswürdig dagegen sind noch die Pistenpläne: Insgesamt drei verschiedene existieren, einer davon scheint nach dem Prinzip des Zahlen-Memorys zu funktionieren: Lifte sind mit Nummern gekennzeichnet, die muss man sich merken, um sie dann in einer Liste zu suchen und den danebenstehenden Liftnamen zu lesen.

Zeit für eine entspannte Mittagspause, bitte garantiert DJ-Ötzi-frei! Kein Problem in St. Vigil, dem ruhigsten Ort am Kronplatz. Auf der sonnenüberfluteten Terrasse der Hütte „Col d’l Ancona“ spielt das „Quartetto Desueto“ mal coolen Jazz, mal „Country Roads“ quasi als akustische Sättigungsbeilage zu Spinatknödeln und Käsenocken.

Diese – vorsichtig ausgedrückt – höchst gehaltvollen Köstlichkeiten sollten eigentlich eine länger anhaltende mittägliche Siesta im Liegestuhl auslösen, wäre da nicht eine Selbstversuchs-Idee – dieser unbändige Bock aufs Böckl. Einmal selber auf so einem Sitz-Ski die Hänge runterzischen!

Markus macht’s möglich: Der 22-jährige Skilehrer zeigt Neigetechnik-Kurvenfahrten, bei denen ICE-Konstrukteure staunen würden, Turbo-Beschleunigung durch extreme Rücklage und die Skistiefel-Sofortbremse Marke „Hacken-Schorsch“. Nach fünf Minuten hat jeder bei Fahrlehrer Markus den Böckl-Führerschein und rasiert mit seinen Kinderski-Kanten quietschvergnügt den „Glatzkopf“, so der Spitzname von Einheimischen für den Kronplatz, diesen einmalig eiförmigen Sonnenberg unter den Skigebieten.

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