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Reise: Am Strand gackern die Hühner

Zuerst tauchen diese schwarzen, schlanken Fregattvögel auf, wie feine Risse im Morgenhimmel. Wenig später sind die Boote der Fischer zu erkennen: winzige Schatten, die zögernd aus der Weite des mexikanischen Pazifiks wachsen.

Zuerst tauchen diese schwarzen, schlanken Fregattvögel auf, wie feine Risse im Morgenhimmel. Wenig später sind die Boote der Fischer zu erkennen: winzige Schatten, die zögernd aus der Weite des mexikanischen Pazifiks wachsen. Bald graben sich die Kiele in den palmengesäumten Strand von Puerto Escondido. Die Fischer entladen Schwert-, Thun- und Tintenfische. Sie zertrümmern massive Eisblöcke und bedecken mit den Splittern ihren Fang. Die Fregattvögel schwirren jetzt dicht über ihren Köpfen, mit aufgeregt wippenden Schwanzfedern.

Netze werden ausgebreitet, geflickt und zusammengerollt. Bald brutzeln Filets in siedendem Öl, während das weiche Licht der Morgensonne durch den Schatten der Palmen läuft, hinüber zu den ersten Badegästen, die ihre Handtücher ausbreiten und bunte Schwimmwesten anlegen. Denn die sanft geschwungene Bucht von Puerto Escondido ist nicht nur faszinierende Bühne des mexikanischen Alltags, sondern auch eine der beliebtesten Bademeilen, rund 400 Kilometer östlich von Acapulco. Die Strände zwischen Puerto Escondido und dem 70 Kilometer entfernten Puerto Angel gehören zu den schönsten in Mittelamerika und stellen eine Alternative zur überlaufenen und teuren Halbinsel Yucatán dar. Am Pazifik gibt es keine Bettenburgen. Hier ist Mexiko noch Mexiko.

Rührt daher diese innere Stimme, die zum Weiterreisen drängt? Weil hinter der nächsten Klippe womöglich noch schönere Strände warten? Der Reisende fühlt sich an der mexikanischen Pazifikküste unwiderstehlich vorwärtsgezogen, von Strand zu Strand, stetig nach Osten, Puerto Angel entgegen.

Das Sammeltaxi verlässt Puerto Escondido, nachdem der letzte Platz auf den Holzbänken der Ladefläche belegt ist. Bald entrollt sich die Küstenstraße über sonnenverbrannte Hügel, gelegentlich von Maisfeldern durchbrochen, von Palmen oder Papayapflanzungen oder strohgedeckten Hütten; dahinter reihen sich kleine Strände am sattblauen Pazifik.

Der Fahrtwind ist glühend heiß. Aus der Fahrerkabine klingt mexikanischer Hip-Hop, eine Mutter säugt ihr Baby, Kisten und Säcke stapeln sich, Sonnenstrahlen dringen durch die Risse in der Plane und lassen das Rückengefieder eines Truthahns bronzefarben schimmern. Die Füße gefesselt, baumelt er am Handgelenk einer Bäuerin wie eine groteske Tasche.

„Fleisch!“, sagt die Frau, lächelt und reibt sich viel sagend den Bauch; dann schlägt sie den Griff ihres rostigen Messers gegen das Bodenblech des Pick-ups als Zeichen für den Fahrer, dass er anhalten soll. Sie steigt aus, bezahlt und verschwindet mit dem Truthahn auf einem der zahllosen Pfade, die sich in der Hitze verlieren.

Mazunte, ein kleiner Ort an der Küstenstraße, war noch vor wenigen Jahren ein abgelegenes Fischerdorf. Die Leute lebten von der Jagd auf Schildkröten. Nach dem Erlass des Fangverbots im Jahre 1990 verschrieben sie sich dem Schutz der Tiere und bauten ein Schildkrötenzentrum, das mit seinen Schaubecken landesweite Berühmtheit erlangt hat.

Seit Mazunte an die asphaltierte Küstenstraße angebunden ist, entdecken zunehmend auch Reisende aus Übersee die Vorzüge dieser Region gegenüber der Halbinsel Yucatán. Obwohl die Standards nicht vergleichbar sind. Oder gerade deshalb. Nach Mazunte beispielsweise sind Klimaanlagen noch nicht vorgedrungen. Fließend warmes Wasser gibt es selten. Telefon? Internet? Meist außer Betrieb. Stattdessen: zwei Kilometer Strand von einem leuchtenden Weiß, gerahmt von traditionellen Strohdächern. Hühner gackern zwischen Palmen. Zum Essen rücken die Leute ihre Tische in den Sand.

Im Cabañas Ziga, einer Pension, die etwas erhöht am östlichen Ende der Bucht liegt, sorgt ein Skorpion im Zimmer für Aufregung. „Skorpionstiche sind Medizin“, beschwichtigt die Hausherrin Doña Ziga, eine liebenswürdige Frau in Blumenkleid und Schürze. „Das Gift hilft gegen Nervosität und hohen Blutdruck. Mehr als drei Stiche am Tag sollte man allerdings vermeiden“, sagt sie. Doña Ziga zertritt den Skorpion und kratzt ihn mit den Fingern vom Boden, schließlich soll sich der Gast in ihrem Haus wohlfühlen.

Tage in Mazunte sind Tage in der Hängematte. Unter Palmen lesen, schreiben, dösen; den Fregattvögeln am Himmel nachsehen oder einfach nichts tun und mit geschlossenen Augen den Wellen und dem Rascheln der Palmfächer lauschen.

Mazunte gehört zu den Orten, an denen sich die Abreise immer weiter hinauszögert. Die drängende, innere Stimme wird schwächer, langsam, als entferne sie sich in einem davontreibenden Boot. Noch ist sie deutlich hörbar: Dort! Was steht dort im Lonely Planet? Zipolite – another glorious beach! Also: raus aus der Hängematte, weiter, weiter.

Wirklich glorious ist in Zipolite das westliche Ende des Strands, wo Antonio Nadurille das Lo Cósmico führt, eine Oase der Ruhe, die aus der Zeit gefallen scheint. Durch Felsen und Meer vom Rest Zipolites getrennt, ziehen sich sogenannte Palapas, Holzhäuser auf hohen Pfählen, die Klippen hinauf. Antonio steigt zum obersten Pfahlhaus hinauf und rollt hoch über dem Pazifik ein Foto aus. Es zeigt Zipolite vor zwanzig Jahren: Meer, Palmen, Sand – sonst nichts. „Damals sah ich tagelang nur meine eigenen Fußspuren“, erinnert sich Antonio. Heute ist die Zeit der Robinsonaden vorbei. Palapas säumen den Strand, und trotz strenger Bestimmungen sind erste Gebäude aus Beton entstanden. Noch atmet alles einen weltvergessenen, windschiefen Charme.

In Zipolite rollt das Meer ungestüm heran. Surfer reiten auf wuchtigen Brechern. Rettungsschwimmer passen auf, denn die Unterströmung ist lebensgefährlich. Der Aufruhr des Ozeans kontrastiert mit der mexikanischen Gelassenheit an Land: Ein Junge spaziert über einen einsamen Pfad, einen Thunfisch geschultert. Esel sind mit riesigen Bündeln von Palmfächern beladen.

Ein Fischer wippt im Schaukelstuhl und zupft auf seiner Gitarre. „Komm Junge!“, ruft er, als er den Fremden sieht. „Komm essen!“ Wenig später ist der Tisch gedeckt: Tortillas, frischer Tintenfisch, scharfe Soßen. „Ah, Mexiko!“, ruft der Fischer aus, lacht und stapelt gegrillte Filets auf den Teller seines Gasts. „Bei uns in Mexiko wird gegessen, dann die Siesta genossen und wieder gegessen. Bei uns in Mexiko, Junge, da lernst du leben!“

Am folgenden Morgen fällt es besonders schwer aufzubrechen. Die innere Stimme ist kaum noch zu vernehmen. Weiter, flüstert sie immer schwächer werdend, es gibt noch Schönes zu entdecken . Eine Stunde östlich von Zipolite, immer die verschlafene alte Küstenstraße entlang, lässt die zerklüftete Felsenbucht von Puerto Angel an eine Seeräuberfestung denken. Kastanienbraune Kinder springen von der Mole ins Wasser, Saltos schlagend, kreischend vor Glück.

Dort, die Hängematte. In ihr ordnen sich die Eindrücke der Reise, die einzelnen Teile finden zusammen, kommen zur Ruhe. Essen, Siesta, Essen … ein wohltuendes Gefühl stellt sich ein. Die drängende Stimme verstummt und weicht einer anderen. Die säuselt: „Fahr nicht weiter. Bleib einfach im Hier und Jetzt.“

Irgendwo erklingt der Gesang von Mariachis. Fischerboote verlassen die Bucht. Nach und nach verblasst ihre Farbe, sie schrumpfen zu winzigen Schatten und lösen sich in der Weite des mexikanischen Pazifiks auf. Nur die Fregattvögel bleiben zurück, feine Risse im Morgenhimmel.

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