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Schmackhaftes aus der Garküche. Wenn es für die Fahrzeuge nicht weitergeht, eilen fliegende Händler herbei. Ein kleiner Verdienst springt immer heraus.

© Jörg Kersten

Indien: Hinter dem Pass wohnen die Götter

Eine Fahrt auf dem Manali-Leh-Highway ist Abenteuer auf höchstem Niveau. Über schmale Pisten geht es hinauf in den Himalaja.

Wir stöhnen auf. Der Pass am Rothang ist blockiert. So weit das Auge reicht, stauen sich Lastwagen die Serpentinen hinauf. Die Bergstraße, die immerhin eine Höhe von 3978 Metern erreicht, ist die einzige Verbindung zwischen den tiefer gelegenen indischen Bundesstaaten im Süden und den Bergregionen von Ladakh. Der Rothang („Leichenberg“) ist die empfindlichste Stelle des National Highway 21. Dieses Nadelöhr ist jetzt verstopft.

Stanzin, unser Fahrer, zögert nicht. Er hupt sich vorbei an den gestrandeten Ungetümen, schiebt sich Millimeter knapp am Abgrund entlang, fährt Slalom um wartende Menschen und kommentiert deren Protest mit selbstbewusster Stimme. Selbst die widerspenstigen Naturen unter den Lkw-Fahrern sehen sich auf wundersame Weise genötigt, in das Führerhaus ihrer tonnenschweren Karren hinaufzuklettern, werfen den muckenden Dieselmotor an, um uns ein paar Zentimeter Straßenbreite mehr zu verschaffen. Stanzin beweist Durchsetzungskraft auf dem Weg nach oben.

An der Spitze der Kolonne sehen wir, was passiert ist: Der Hang über der Passstraße ist schon vor zwei Tagen abgerutscht. Massen von Schlamm und Geröll blockieren den Weg. In der Mitte jedoch, von riesigen Felsbrocken schwer getroffen, hängt ein Tanklastzug über dem Abgrund und droht, jederzeit 500 Meter tief hinabzustürzen.

Dörfler aus dem Tiefland nutzen die Misere der Gestrandeten

Der verantwortliche Leiter der Border Road Organisation, Mr. Doon, befindet sich an Ort und Stelle. Er klärt uns über die Lage auf: „Wir haben“, so sagt er, „schweres Gerät der Armee aus Manali angefordert. Wenn die da sind, ziehen wir den Tanklastzug auf die Straße zurück. Bis dahin aber wird geschaufelt.“ Wie lange wird’s denn dauern, den Pass frei zu machen? Der uniformierte Mr. Doon schaukelt ganz indisch mit dem Kopf hin und her. „Vielleicht bis heute Abend?“, sagt er vage.

 Stanzins Geschick und Durchsetzungskraft werden auf dem Weg mehrfach gebraucht.
Stanzins Geschick und Durchsetzungskraft werden auf dem Weg mehrfach gebraucht.

© Jörg Kersten

Dörfler aus dem Tiefland nutzen die Misere der Gestrandeten, indem sie Bohnenbrei und Chappattis (Fladenbrote) herbeischleppen. Im Nu entstehen, wie aus dem Nichts, Garküchen neben dem Konvoi. In großen Bottichen wird Reis gekocht. Truckfahrern und Buspassagieren wird heißer, sehr süßer Chai (Tee) angeboten, der in der kalten Höhenluft einfach köstlich schmeckt.

Kuldeep Chauhan, Reporter der „Chandigarh Tribune“, macht sich Notizen und fotografiert. Er habe schon viele Artikel über den desolaten Zustand der Bergstraße verfasst. „Stellen Sie sich vor, jeden Tag quälen sich 2000 Fahrzeuge über den Rothangpass. Wenn der zu ist, sind Keylong, Lahaul, Spiti, Ladakh – die ganze Region – vom Rest Indiens abgeschnitten.“

Hinter den fruchtbaren Tälern Lahauls beginnt die Wüste

Chauhan ist überzeugt, dass der neun Kilometer lange Tunnel, den ein europäisches Bauunternehmen schon seit zwei Jahren durch den Rothang treibt, Abhilfe schaffen wird. Das 250 Millionen Euro teure Projekt soll Ende 2017 fertig sein.

Endlich, als die Sonne schon hinter den Berggipfeln verschwindet, ist die Strecke wieder frei. Wir folgen der Straße nach Norden und finden, von Hunden verbellt, eine Herberge in Keylon, dem Verwaltungszentrum des Lahaultales.

Lahaul ist besonders in den Sommermonaten dem Monsun ausgesetzt und präsentiert sich uns daher bei Tag betrachtet als grüne Oase. In den Tälern entlang der Flüsse Chandra (Sonne) und Bhaga (Mond) bauen Bewohner auf terrassierten Feldern Gemüse und Gerste an. Hinter den fruchtbaren Tälern Lahauls mit seinen schmucken Dörfern aber wird das Terrain immer trockener – die Bergwüste beginnt.

"Ein Ort für Götter, kein Ort für Menschen"

Wegzehrung für die kräfteraubende Reise.
Wegzehrung für die kräfteraubende Reise.

© Jörg Kersten

Wir überqueren die zentrale Himalajakette, die vor 60 Millionen Jahren beim Zusammenprall von Indien und Nordasien entstand. Wind, Wasser, Eis, Erdrutsche, Lawinen und Beben schufen in der Knautschzone der Erdplatten mit der Zeit tiefe Schluchten und spitze Berge. Wir können uns kaum satt sehen an den skurrilen Formen und Farben der Landschaft. Die Dimensionen von Canyons und Gebirgsmassiven, die wir sehen, sind überirdisch. „Eine Welt im Innern der Welt – ein Ort für Götter, kein Ort für Menschen“, so beschreibt es Rudyard Kipling in einem seiner Romane.

Kurz vor Zing Zingbar auf 3850 Metern holen wir zwei Radler ein, die keuchend in die Pedale treten. Jan und Helge, zwei holländische Biker, haben sich trotz aller Warnungen vor Höhenkrankheit und den Unwägbarkeiten der Natur mit dem Rad nach Leh aufgemacht. Der Zustand der beiden Holländer ist bedenklich. Sie seien körperlich und psychisch so ziemlich am Ende, sagen sie, sichtlich dankbar dafür, in der Einsamkeit der Berge endlich jemandem ihr Leid klagen zu können.

Helge hat genug vom Staub und Dieselruß der Lkw, die hautnah vorbeirumpeln. „Das Hupen der Trucks ist echt nervig und so grell, dass dir die Ohren abfallen. Vor Schreck haut’s dich da glatt vom Rad.“ Zum Beweis präsentiert Helge seine aufgeschürften Knie.

Stolz sind die beiden aber dann doch über ihre bisherige Leistung. Trotz der Strapazen, die „furchtbar an den Nerven zerren“, sind die beiden Sportsfreunde zuversichtlich, es bis Leh zu schaffen. „Na, dann viel Glück“, wünschen wir.

Mit eingeklappten Außenspiegeln rangieren wir am gestrandeten Lastwagen vorbei

Vor ihnen und uns liegen noch die höchsten Pässe des Himalajagebirges. Selbst die PS-starken Motoren der Lastwagen husten und stottern in der dünnen Luft. Mit ihrer für Leh und Srinagar bestimmten Fracht schrauben sie sich, eine schwarze Fahne von Ruß hinter sich lassend, zum 4892 Meter hohen Baralachapass hinauf.

Kurz vor der Passhöhe blockiert ein bunt bemalter Brummi mit geplatzten Reifen die Strecke. Die beiden Fahrer lümmeln untätig im Führerhaus. Sie haben zwar einen Ersatzreifen dabei, aber kein richtiges Werkzeug. Zum Glück können wir die Rinne am Straßenrand mit Steinen auffüllen und mit eingeklappten Außenspiegeln am gestrandeten Lastwagen vorbei rangieren. Geschafft! Dutzende andere Lkw, die herankeuchen, müssen warten, bis einer kommt, der den passenden Schlüssel mit sich führt.

Hinter dem Baralachapass wohnt niemand mehr, außer den Göttern, heißt es. Hier kann keiner sesshaft werden. Die Landschaft zeigt sich bar jeder Vegetation, zerklüftet, trocken und rau.

Diejenigen, die dennoch da sind, arbeiten auf Zeit am Highway 21. Aus der Not heraus. Bauarbeiter schuften hier in den Sommermonaten unter erbärmlichen Bedingungen. Viele der dunkelhäutigen Arbeiter stammen aus Bihar, einer der ärmsten Regionen Indiens, mit Grenzen zu Nepal und Bangladesch. Sie hausen irgendwo, irgendwie im Nichts am Straßenrand unter Zeltplanen und halten die Strecke, so gut es eben geht, in Schuss.

Die Aussicht auf das Tal des Tsarapflusses ist gewaltig

Von einer Toilette aus Emaille, wie wir sie in unserem Zelt in Sarchu vorfinden, können diese Arbeiter nur träumen. Sarchu, auf 4130 Metern Höhe gelegen, ist Übernachtungsplatz für alle, die auf dem Manali-Leh-Highway unterwegs sind. Mit Beginn des Sommers werden die Camps vor der Kulisse gezackter Eisriesen aufgebaut.

Wir mieten eines der Zelte und staunen über den Luxus in der Wildnis. Sogar ein Bett mit warmer Decke ist aufgestellt. Die Aussicht auf das grandiose Tal des Tsarapflusses bei Sonnenuntergang ist gewaltig.

Die Nacht allerdings ist schneidend kalt, sodass wir zum Essen im Versorgungszelt eng zusammenrücken – die indischen Passagiere eines Busses aus Manali, die Jungs einer Motorradclique aus Delhi und ein Grüppchen Mountainbiker aus Österreich mit Begleitfahrzeug.

In Ladakh, dem indische Tibet, flattern Gebetsfahnen wie zur Begrüßung

Schneeweiß leuchten die Chörten in den Dörfern des oberen Indus.
Schneeweiß leuchten die Chörten in den Dörfern des oberen Indus.

© Jörg Kersten

Am folgenden Tag überqueren wir die Grenze zu Ladakh. Das Wetter ist gut, und so müssen wir keinen Erdrutsch fürchten. Und dennoch bleiben wir für Stunden im Gebirge hängen. Ein Armeekonvoi blockiert den Weg zum 5030 Meter hohen Lachalungpass. „Donkeys“, stöhnt Stanzin und stellt den Motor ab.

Stanzin mag die Soldaten gar nicht, die in Ladakh stationiert sind und ihre Armeefahrzeuge spazieren fahren. „Schaut euch diese Esel an, jetzt parken die mitten auf der Straße.“ Stanzin hupt, steigt aus und verhandelt. Vergebens. Die „Esel“ vom Militär zeigen sich störrisch, die Straße gehört nun mal ihnen, weil sie in dem sensiblen Grenzgebiet zu Pakistan und China Wache schieben. „Nach Leh werden wir es heute nicht mehr schaffen“, sagt Stanzin. Dabei hatte er sich schon so gefreut. Seine Frau werde sich Sorgen machen, sagt er.

Kumar schenkt uns ein schüchternes Lächeln

Die Nacht, die wir in einem der Versorgungszelte am Weg verbringen müssen, wird unruhig. Mit kreischenden Bremsen halten ständig neue Lastwagen an. Bärtige Männer aus Kaschmir oder aus Punjab fordern auch zu später Stunde noch Essen und Trinken. Schüchtern bedient Kumar, das Mädchen aus Kathmandu, die Mudschahedin der Landstraße. Es sind raue, schweigsame Gesellen, die den Himalaya Highway befahren. Sie essen, während Kumar sie mit gesenktem Blick bedient. Ihr Haar verbirgt sie unter einem Kopftuch, um Anzüglichkeiten zu vermeiden. Uns schenkt sie ein schüchternes Lächeln.

Wie Leuchttürme nach langer stürmischer Fahrt erscheinen uns die ersten schneeweißen Chörten, die uns in den Dörfern des oberen Indus empfangen. Wir haben Ladakh, das indische Tibet, erreicht, und es ist, als würden die bunten Gebetsfahnen, die auf den flachen Dächern der Häuser im Wind flattern, uns willkommen heißen.

Von der Abendsonne angestrahlt, begrüßt uns in Leh der Königspalast

Wie Perlen an einer Kette reihen sich die ladakhischen Siedlungen den Indus entlang. Schon bald sehen wir die bedeutenden Klöster Hemis, Stakna, Thikse, Shey – die ersten von unzähligen buddhistischen Anlagen, die in Ladakh zu besichtigen sind. Die Region um die Hauptstadt Leh ist die kulturell reichste im Westhimalaja, ein Muss für kulturinteressierte Touristen, die es bis hier schaffen. Von der Abendsonne angestrahlt, begrüßt uns in Leh der neunstöckige Königspalast, der im Baustil an den Potalapalast von Lhasa erinnert.

Stanzin lässt sich nicht mehr zu einem Abschiedsessen in einem der Dachrestaurants der Stadt überreden. Nach der abenteuerlichen Fahrt möchte er schnell nach Hause. Viel Zeit bleibt ihm nicht, sich auszuruhen, denn bald schon wird er wieder Touristen auf dem Manali-Leh-Highway über die höchsten Pässe der Welt chauffieren.

Tipps für Indien

ANREISE

Nach Indien geht es ab Berlin vergleichsweise günstig: Zubringer nach Brüssel und weiter mit Jet Airways nonstop nach Delhi, im kommenden Mai ab 413 Euro. Von Delhi nach Manali (rund 100 Kilometer) kostet der Hin- und Rückflug etwa 70 Euro. Für die Einreise benötigen Deutsche ein Visum (Telefonnummer des Konsulats: 030 /25 79 56 11).

Für die 485 Kilometer lange Strecke zwischen Leh und Manali kann man sich ein Auto mit Fahrer mieten. Pro Tag etwa 100 bis 120 Euro. Die Fahrt dauert je nach Straßenzustand und Wetterlage drei bis vier Tage.

GESUNDHEIT

Da die Fahrt über die höchsten Pässe der Welt führt, sollte der Reisende eine robuste Gesundheit mitbringen beziehungsweise sich vor konkreten Plänen ärztlich beraten lassen.

UNTERKUNFT

In Manali und Leh ist die touristische Infrastruktur sehr gut. Unterkünfte gibt es in allen Preislagen. Auf der Strecke übernachtet man, außer in Keylon, in Zeltcamps, die je nach Ausführung für die Gegend einen gewissen Luxus bieten (60 Euro für ein Doppel).

Die Möglichkeit Geld zu wechseln, ist entlang der Strecke nicht gegeben. Es empfiehlt sich also, genügend Bargeld mit sich zu führen.

AUSKUNFT

Indisches Fremdenverkehrsamt, Telefon: 069 / 242 94 90. Die Website Incredibleindia ist bunt, aber nicht fehlerfrei.

Jörg Kersten

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